NY Phönix. U. Kirsten

NY Phönix - U. Kirsten


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Die Welt veränderte sich in dieser Zeit rasant und die Industrialisierung forderte ihren Tribut. Städte, Mietskasernen, Bahnhöfe, Wassertürme, Museen, Postämter wuchsen über Nacht aus dem Boden und das aufstrebende Bürgertum wollte seine neue Macht und seinen erworbenen Reichtum präsentieren. Die Industrialisierung wurde nach außen hin noch durch Anleihen aus früheren Bauepochen kaschiert.

      Noch immer ist kein Mensch zu sehen. Lenny gibt jedoch nicht auf. Rechts neben der Schalterreihe sieht er eine Tür. Er drückt sie auf und befindet sich nun in einem langen Gang, von dem links und rechts mit dunklem Holz getäfelte Bürotüren abgehen. Er kommt an einer Glasvitrine vorbei. In dieser ist die blaue Uniform eines Postangestellten aus den 60er Jahren, seine blaue Schirmmütze, auf der ein messing-farbiges Abzeichen prangt, als auch eine lederne Posttasche, zum Austragen der Briefe, ausgestellt. Dann kommt er an eine Treppe. Sie führt in die untere Etage. Das Geländer ist bronzefarben und die Sprossen deuten kunstvoll gestaltete griechische Harfen an. Entlang des Treppenabsatzes verläuft ein Band von antiken Rauten. Lenny steigt die Treppe hinab und wendet sich nach rechts in einen Bürotrakt mit großen, imposanten, eichenen Holztüren. Dieser Bereich muss den Direktoren vorbehalten sein. Und wirklich prangt neben einer der Türen ein großes Messingschild mit der Abbildung eines Mannes mit breiter Stirn und einer Halbglatze, umrandet mit einem Haarkranz. Lenny entziffert die Zeilen: „Dieses Gebäude trägt den Namen des 53. Postmeisters von New York, James A Farley, der in diesem Büro von 1933 bis 1940 seinen Dienst ausübte. „Gut, dass ich das jetzt auch weiß.“, denkt sich Lenny innerlich schmunzelnd. „Das bringt mich im Augenblick jedoch auch nicht weiter.“ Lenny beginnt, in dem weitläufigen Gebäude langsam die Orientierung zu verlieren. In Gedanken versunken, drückt er die messing-farbene Klinke der schweren Holztür nach unten. Die Tür gibt dem Druck nach. Lenny schlängelt sich durch den Spalt in das saalartige Büro. Im Zimmer ist es stockduster. Langsam beginnen sich seine Augen, an das Zwielicht zu gewönnen. Seine Augen erfassen auf der rechten Seite eine ausgedehnte Bücherwand. Daneben hängt eine überdimensionale historische Karte der Vereinigten Staaten. In der Mitte des Raumes steht ein massiver Mahagoni-Schreibtisch. Auf dem Sessel hinter dem Schreibtisch und ihm stockt dabei der Atem, erkennt er die Umrisse einer Gestalt. Lennys Gedanken beginnen zu kreisen und ihm wird schwindelig. Eine undefinierbare Angst macht sich in ihm breit. Die schwarze Gestalt ist in einen Umhang gekleidet. Unter der tief in das Gesicht gezogenen Kapuze starren ihn zwei glühend, giftgelbe Augen an. Er hat das Gefühl, dass sein Geist fixiert ist. Zwei Schraubzwingen pressen sich gegen seinen Schädel. Die knochigen, krallenartigen Hände hat das Wesen so auf die Schreibtischplatte aufgestützt, als würde er sich jeden Augenblick mit einem gewaltigen Satz auf sein Opfer stürzen. Trotz der Panik, die in Lenny aufsteigt, fällt sein Blick auf den silbrig schimmernden Siegelring an dessen rechten Hand. Lenny erkennt verwundert die Umrisse eines Schmetterlings. Dieses kleine Detail will so gar nicht in die alptraumhafte Situation passen.

      Der Mann hinter dem Schreibtisch spricht mit einer kehligen, befehlsgewohnten, scharfen Stimme: „Ich habe Dich erwartet.“ Und dabei zeigt er ein breites, arrogantes Grinsen. „Du wurdest mir angekündigt. Ich werde Dich von nun ab wie ein Alptraum verfolgen. Du wirst mich zu IHM führen. Deine Angst wird Dich treiben. Du wirst versuchen, gegen Deine unausweichliche Niederlage anzukämpfen. Du wirst nach Mitteln und Wegen suchen, Dich zu wehren, mich doch noch zu besiegen. Und diese Suche wird Dich letztlich zu IHM führen. Wenn ich IHN besitze, dann wird meine Macht besiegelt und unermesslich sein. Niemand wird sich mir mehr in den Weg stellen und das letzte Aufbäumen dieser schwachen Kreaturen, die sich noch verzweifelt wehren, wird in sich zusammenbrechen. Du hast 48 Stunden Zeit. Dann werde ich Dich holen.“ Lenny versucht, seine Gedanken zu konzentrieren. Der Druck lässt ein wenig nach. „Ich muss hier weg.“ Mühsam dreht er sich zur Seite aus dem Pegel des grausamen, giftgelben, an ihm zerrenden Augenpaares. Die ihn fixierenden Kräfte lassen plötzlich nach. Er stolpert ein paar Schritte, fängt sich und reißt an der schweren Holztür, bis diese nachgibt und sich für ihn öffnet. Er rennt den Gang entlang, kommt an der Treppe an. In zwei, drei Sprüngen eilt er die Treppe hinauf und rennt den Gang zurück zum Schalterraum. Er wirft sich gegen die Drehtür des Ausgangs und befindet sich wieder auf dem riesigen Treppenportal vor dem Central Post Office. Er nimmt zwei Stufen auf einmal und hastet hinunter zur Pennsylvania Station. Auf der Straße, erinnert sich Lenny, dass er sich auf der 8th Avenue befindet. Er wendet sich nach links, nach Norden. „Ich muss nach Hause kommen. Dann klärt sich sicher alles auf.“ Er wohnt mit seinen Eltern in einem Apartmenthaus an der Central Park West zwischen der 74 und 75. Straße, auf der 22. Etage, mit einem wunderbaren Blick auf den großen See des Central Park. Lenny läuft, von Panik getrieben, nach Norden. An der nächsten Straßenecke ist bereits die 34. Straße. Spontan entscheidet er sich, nicht direkt die 8th Avenue nach Norden zu nehmen, sondern hier nach Osten abzubiegen. Er möchte zum belebten Times Square, um endlich wieder Menschen zu Gesicht zu bekommen. Die 34. Straße führt ihn in die Richtung des Empire State Building. Lenny durchfährt ein angenehmes Gefühl der Wärme, als er seinen Lieblings-Wolkenkratzer sieht. Dessen Anblick gibt ihm immer ein Gefühl von Heimat, von Ankommen, von zu Hause sein. Seit die Twin Tower des World Trade Center an diesem unseligen Tag im September 2001 zerstört wurden, ist das Empire State Building mit seinen 102 Stockwerken wieder das höchste Gebäude der Stadt.

      Lennys Vater hat ihm erzählt, dass er seiner Mutter an deren Geburtstag vor jetzt 17 Jahren hier oben einen Heiratsantrag machen wollte. Der Film „Sleepless in Seattle“ mit Tom Hanks und Meg Ryan war einer der Lieblingsfilme seines Vaters und die rührselige Szene am Ende des Films auf der Aussichtsplattform des Empire State Building hatte den Romantiker in ihm geweckt. Die Ringe waren besorgt und steckten in der Hosentasche seines Vaters. Sie standen auf der von Touristen übervölkerten Aussichtsplattform. Dann entschied er sich jedoch spontan anders. Lennys Vater war kein Mann für die Menschenmenge. Er liebte die ruhigen Augenblicke, die Zweisamkeit mit Menschen, die er mochte, den intensiven Austausch, das tiefe Gespräch. Er nahm seine Frau an die Hand und zog sie zum Fahrstuhl. Unten angekommen mussten sie die 5th Avenue erst einmal ein Stück hinunterlaufen, bis sie das gemütliche Café fanden. Sie setzten sich an den Tisch mit Blick aus dem Fenster. Gleich auf der rechten Seite zum Broadway hin, stand das einzigartige, spitz zulaufende Flatiron Building. Das Gebäude hatte seinen erstaunlichen Namen, weil die New Yorker meinten, das Haus wäre von einem Bügeleisen geplättet worden. Lennys Vater hatte hier im Cafe zwei Gläser Prosecco bestellt und dann das kleine Päckchen hervorgeholt. Wie Lenny seine Mutter kannte, war sie hin- und weggeschmolzen und die Emotionen gingen mit ihr durch. Lenny musste beim Gedanken an seine Mutter unwillkürlich lächeln. Ihm wurde dabei warm ums Herz. Sie war die Seele und auch der Sonnenschein ihrer Familie. Unverhofft konnte sie loslachen und sich über die merkwürdigsten Situationen beeimern. Wenn sie unter Menschen waren, fühlte Lenny sich auch schon einmal irritiert, denn ihr Lachen klang schon ein wenig merkwürdig. Waren sie unter sich, dann war seine Mutter jedoch das beste und dankbarste Publikum der Welt. Und Lenny machte dann gerne seine Späße, denn der Lohn ihres Lachens war ihm gewiss. Seine Mutter liebte Tiere, was bei Menschen mit einem großen Herzen die Regel war. Trotzdem hatte es lange gedauert, bis sein Vater und er selbst seine Mutter davon überzeugen konnten, eine Katze mit in ihre Familie aufzunehmen. Aber dann war sie plötzlich soweit und fing von sich aus mit dem Thema an. Sein Vater nutzte die Gunst der Stunde. Wenn er von etwas überzeugt und begeistert war, dann ging alles blitzschnell. Bereits am kommenden Wochenende zog das kleine Kätzchen Bella, ein grauer Halbperser, bei ihnen ein. Heute, ein Jahr später, war aus Bella Charlie geworden. Bella hatte sich als Bello entpuppt, aber so konnte man ja eine Katze unmöglich nennen. Charlie und seine Mutter waren unzertrennlich. Wollte er etwas, dann setzte er sich vor sie, schaute sie mit großen Teddybär-Knopfaugen an und mauzte eindringlich. Seine Mutter las ihm den Wunsch dann von den Augen ab und lag meistens richtig. Lenny hatte sich riesig darüber gefreut, dass Charlie nun Teil ihrer Familie war. Ja, sie hatten ihn aufgenommen. Er war nicht die Katze, das Tier, kein Spielzeug, das im Rang unter ihnen steht, sondern ein gleichberechtigtes Mitglied. Bei ihnen zu Hause, in ihrer Familie, hatte jeder das Recht auf seinen Charakter, auf seine Weise, die Dinge zu sehen und zu artikulieren. Charlie war eine eigene kleine Persönlichkeit. Und wie bei jedem Lebewesen ging es nicht darum, dass das eine Individuum über dem anderen steht, sondern um Liebe und Vertrauen, um Gleichberechtigung und ungezwungene Kommunikation. Liebe und Zuneigung, gerade auch bei Tieren, konnte nicht erzwungen oder einzig mit Leckereien erkauft


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