Die Pferdelords 01 - Der Sturm der Orks. Michael Schenk
Kormund begriff nicht, wie Worte
durch dunkle Tinte und eine Feder auf ein Pergament fließen und von anderen
Menschen verstanden werden konnten. Er wusste sehr wohl, dass dies die
Kunst des Schreibens und des Lesens war, doch der Sinn dieser Kunst war
ihm verschlossen geblieben. Garodem hatte ihm einmal erklärt, dass er auf
diese Weise Dinge festhalten und für spätere Generationen lesbar machen
könne. Nun, es war richtig, der Pferdefürst hatte keine Eltern mehr, die die
Aufgabe übernehmen konnten, ihren Enkeln von der Geschichte ihres Volkes
zu berichten, aber der Grund, eine schriftliche Botschaft über einen Boten zu
übermitteln, erschien Kormund trotzdem absurd. Warum sollte dieser ein
Pergament benutzen, wo er doch einen Mund zum Sprechen hatte? Zwar wäre
es vielleicht nicht von Übel gewesen, wenn er bei dem toten Reiter des
Königs eine schriftliche Botschaft hätte finden können, welche Garodem
wiederum hätte lesen können, aber trotzdem war die Schreibkunst für
Kormund eine Kunst, für die er keine Zukunft sah, zumal es selbst am Hofe
des Königs nur wenige gab, die sie beherrschten. Ja, die grauen und die
weißen Magier, sie mochten diese Kunst benötigen, denn diese weisen
Männer horteten uralte Schriften, die noch aus den Zeiten der Vorväter
stammten. Doch was sollte ein Pferdelord mit einem sprechenden Papier, wo
er einen Mund und eine Klinge hatte, um seine Meinung kundzutun?
»Ich habe Euch erst in einigen Tagen zurückerwartet«, schreckte der
Pferdefürst den Scharführer aus seinen Gedanken. »Und es scheint mir, als
brächtet Ihr sorgenvolle Gedanken mit. Zudem seid ihr ungedeckt, mein
Freund.« Er wies auf Kormunds Hüfte. »Es sieht mir ganz danach aus, als
hättet Ihr Verwendung für Eure Klinge gefunden.«
»Das ist wohl wahr«, erwiderte der Scharführer und entspannte seine
Haltung. Er trat näher an den Tisch heran. »Wir fanden am Pass zur
Nordmark einen Toten. Wie es aussieht, einen Boten des Königs. Der Mann
gehörte dessen Wache an.«
Garodem kniff die Augen zusammen und lehnte sich in seinem Stuhl
zurück. »Einen Boten des Königs? Seid Ihr Euch sicher?«
»Lukan denkt ebenso.«
Garodem lächelte knapp. »Dann war es auch ein Bote des Königs. War
etwas zu finden? Eine Botschaft? Irgendein Hinweis darauf, was er hier
wollte?«
»Nein, Garodem, mein Herr.« Kormund räusperte sich, und der Pferdefürst
winkte ihn näher heran und füllte ihm einen Becher mit kühlem Wein. »Es
sieht aus, als sei er von einem Pelzbeißer angefallen und getötet worden.«
Garodem nickte. »Und Ihr bezweifelt das. Ich höre es an Eurer Stimme.
Kommt schon, Kormund, alter Freund, wir sind schon zusammen geritten.
Also zögert nicht, Eure Gedanken frei auszusprechen.«
»Wir fanden keine seiner Waffen.«
»Verstehe.« Garodem erhob sich aus seinem Stuhl und begann im Raum
auf und ab zu gehen. Dabei legte er seine Hände auf dem Rücken zusammen
und schien schon kurz darauf vollkommen in sich versunken zu sein. Es war
dies eine Eigenheit des Pferdefürsten, wenn er sich intensiv mit einem
Problem befasste, und für Kormund war es ein gutes Zeichen, zeigte es ihm
doch, dass Garodem den Tod des Boten als ebenso bedrohlich empfand wie er
selbst. Garodem hielt für einen Moment inne. »Ihr seid Euch absolut sicher,
dass es ein Mann der Wache des Königs war? Kein Geächteter oder Räuber?«
»Es war ein Mann Theo …«
»Nicht den Namen, Kormund«, unterbrach Garodem ihn mit ungewohnt
scharfer Stimme.
Kormund räusperte sich und nahm einen erneuten Schluck, um seine
Verlegenheit zu verbergen. »Es war ein Mann des Königs, mein Herr. Der
Harnisch seiner Leibwache und der goldene Saum am Umhang …«
»Ich verstehe.« Garodem nahm seine Wanderung wieder auf.
Kormund verstand den Zwist nicht, der Garodem noch immer von seinem
Bruder, dem König der Pferdelords, fernhielt. In ihrer Jugend sollten die
Brüder unzertrennlich gewesen sein, bis irgendetwas dazu geführt hatte, dass
die beiden in einem heftigen Streit auseinandergegangen waren. Sein Bruder,
der König, hatte Garodem daraufhin die Hochmark übergeben, und dieser war
mit seinem Gefolge in das Hochland gezogen. Vielleicht wussten die Brüder
inzwischen selbst schon nicht mehr, worum es bei ihrem Streit gegangen war,
aber eine weitere Eigenheit Garodems wurde dadurch augenfällig – seine
unglaubliche Sturheit, wenn er erst einmal einen Entschluss gefasst hatte.
Garodem hatte den Kontakt mit dem Königshaus vollkommen
abgebrochen und sich auf den gelegentlichen Handel mit den anderen Marken
des Landes der Pferdelords beschränkt. Seitdem durfte niemand mehr den
Namen seines Bruders oder seines Amtssitzes aussprechen. Dennoch war und
blieb er ein Pferdelord und dem König treu, was auch die Einrichtung der
Signalfeuer bewies.
Auch Garodem schien in diesem Augenblick an die Signalfeuer zu denken.
»Wenn er in Schwierigkeiten ist und Hilfe braucht, dann wird sich die
Hochmark nicht verweigern«, knurrte er und sah Kormund an. »Wir sind und
bleiben Pferdelords und stehen zusammen. Er wird mich nicht umsonst um
Hilfe bitten.«
Garodem verharrte neben seinem Schreibtisch und blickte auf die
Landkarte, die an einer Wand des Raumes aufgespannt war. Sie war aus
bestem Pergament und sorgfältig bemalt und geölt worden, um sie
witterungsbeständig zu machen. Sie zeigte die Marken des ganzen Landes,
doch der Name der Hauptstadt war sorgsam übermalt worden. Garodem
führte seinen Finger auf der Karte entlang, und Kormund erkannte, dass der
Finger den Positionen der einzelnen Signalfeuer folgte.
»Hat das Feuer gebrannt?« Garodem sah Kormund