Die Pferdelords 01 - Der Sturm der Orks. Michael Schenk
wirklich eine Raubkralle ist, dann werde ich sie finden und erlegen.«
Nedeam dachte an die tote Raubkralle, die er im Vorjahr gesehen hatte, als
ein Beritt des Pferdefürsten vorbeigekommen war. Es war ein schlankes und
schönes Tier gewesen, etwa groß wie ein Wolltier, doch mit tödlichen Krallen und einem mörderischen Gebiss mit langen Reißzähnen ausgestattet. Es hatte
ein goldgelbes und unglaublich weiches Fell besessen. Schon eine einzelne
Raubkralle war nicht zu unterschätzen, doch meist lebten und jagten sie in
einem Rudel von drei oder vier Tieren.
Balwin spürte die Besorgnis der anderen und lächelte aufmunternd. »Ich
habe einen guten Bogen und scharfe Pfeile. Außerdem einen starken Arm und
eine scharfe Klinge. Es wird schon gut gehen.«
»Jedenfalls solltest du nicht allein gehen«, sagte Meowyn besorgt. »Wenn
es mehrere sind, wirst du rasch in Bedrängnis kommen. Du weißt, dass sie
angreifen, wenn sie sich bedroht fühlen oder hungrig sind.«
Nedeams Vater zuckte die Schultern und strich sich durch den dichten
Bart. »Keine Sorge, Weib, ich werde auf mich achten.« Er sah sie an und
nickte dann. »Das werde ich wirklich.« Plötzlich lachte Balwin dröhnend auf
und schlug vergnügt mit der Faust auf den Tisch. »Was rede ich da von
Raubkrallen, wo doch heute noch etwas viel Gefährlicheres geschieht? Unser
Sohn geht allein in die Stadt, das nenne ich Gefahr.« Er schlug Nedeam
erneut auf die Schulter. »Ah, er wird stumpfe Klingen zu überteuerten Preisen
kaufen«, knurrte er und zwinkerte Nedeam dabei zu. »Er wird nur auf Unsinn
achten und statt guter Messer wertlose Süßwurzeln erstehen, nicht wahr?«
Nedeam sah das besorgte Gesicht seiner Mutter und nickte mechanisch.
Für einen Moment aßen sie schweigend, bis Balwin seine Schüssel von
sich schob und Meowyn auffordernd ansah. »Ich denke, es ist an der Zeit.
Nedeam, du gehst Stirnfleck satteln, das ist deine Aufgabe, deine Mutter wird
dir währenddessen etwas Ordentliches zu essen einpacken.« Und zu Meowyn
gewandt: »Gib ihm etwas von dem getrockneten Pferdefleisch mit, es ist
haltbar und nahrhaft. Ich werde inzwischen die Felle und die Wolle holen.«
»Und die alte Klinge«, erinnerte ihn Nedeam.
Balwin nickte. »Und die alte Klinge, junger Herdenhüter.«
Nedeam folgte ihm nach draußen, während Meowyn den Reiseproviant
packte: Brot, Wolltierkäse und getrocknetes und leicht gesalzenes
Pferdefleisch. Im Land der Pferdelords gehörte Pferdefleisch zu den
Grundnahrungsmitteln, aber kein Pferdelord verzehrte jemals das Fleisch des
eigenen Pferdes. Verstarb ein Tier, so schenkte man das Fleisch dem
Nachbarn.
Ein Stück vom Haus entfernt befand sich die kleine Koppel, in der die
Pferde der Familie standen und in deren einer Ecke ein offenes Mauergeviert
errichtet worden war, das mit Grassoden und Steinen abgedeckt war. Wurde
die Witterung im Winter zu stürmisch oder aber setzten die schweren
Regenstürme ein, die gelegentlich mit Eiskörnern versetzt waren, zogen sich
die Pferde dorthin zurück. Selbst die Tiere in den Tälern suchten dann Schutz
zwischen den Felsen. Doch die Pferde der Hochmark waren bekannt dafür,
dass sie ungewöhnlich zäh und robust waren. Und sie waren Kämpfer, denn
die Männer der Hochmark trainierten ihre Reittiere für den Kampf. Ihr Huf
und ihr Gebiss konnten ebenso tödlich sein wie Pfeil, Lanze oder die blanke
Klinge.
Nedeam trat in die Koppel, sprach mit den Pferden, die ihn freudig
begrüßten und ihre Köpfe an ihm rieben. Doch an diesem Tag interessierte
ihn nur ein einziges Pferd: Stirnfleck. Der große braune Hengst hatte einen
lang gezogenen weißen Fleck an seiner Stirn und war das stärkste ihrer
Reittiere. Normalerweise wurde er nur von Balwin geritten, und so war dieser
Tag für Nedeam in doppelter Hinsicht außergewöhnlich, würde er doch nicht
nur allein nach Eternas reiten, sondern auch noch auf dem Hengst seines
Vaters. Der Hengst tänzelte aufgeregt, als er begriff, dass er nun bald aus der
beengenden Koppel herauskommen würde. Stirnfleck liebte lange Ausritte,
und als ihm Nedeam Satteldecke und Sattel auflegte, verharrte der Hengst
bereitwillig. Nedeam zog den Sattelgurt straff und sah dabei wehmütig auf
den leeren Lanzenschuh am rechten Steigbügel und die leere Halterung für
den Schildriemen. Noch vier lange Jahre würde es dauern, bis er endlich als
Kämpfer geschult werden und den Umhang des Pferdelords erhalten würde.
Vier Jahreswenden!
Nedeam seufzte leise und legte Stirnfleck das Zaumzeug an. Der Hengst
schnaubte leise, als er die großen Tragetaschen über die Kruppe aufgelegt
bekam, denn er mochte die Beengung durch diese Lastbehälter nicht. Zuletzt
befestigte Nedeam die großen Ledertaschen noch am Riemen des Sattels,
sodass sie nicht verrutschen konnten. Dann nahm er Stirnfleck am Zügel und
führte ihn aus der Koppel.
Balwin trat gerade aus dem kleinen Anbau des Hauses und trug gegerbte
Häute und Felle sowie Nedeams Jagdbogen über dem Arm. Sorgfältig schob
er Felle und Häute in die Tragetaschen und band den Bogen zusammen mit
einem Pfeilköcher am Sattel fest. »Biete dem Eisenschmied erst die zweite
Wahl an«, sagte Balwin. »Seine Augen sind nicht mehr besonders, und er
wird ohnehin versuchen, dich zu übervorteilen. Achte auf rostige Stellen an
den Klingen, die er dir bietet. Kratze den Rost sorgfältig ab. Manche sagen,
Guntram biete Klingen an, die beschädigt seien, und überdecke die
Bruchstellen mit Schmutz.« Balwin lächelte. »Ich glaube nicht, dass Guntram
wirklich solch ein Gauner ist, aber er ist immerhin Eisenschmied und ein
elender Feilscher.«
Balwin sah Meowyn mit dem Proviantsack aus dem Haus treten. »Und lass
deiner Mutter etwas von der Süßwurzel übrig, mein Sohn. Das wird sie
freuen.«