Die Pferdelords 01 - Der Sturm der Orks. Michael Schenk
keiner der Pferdelords dieses Gebot jemals verletzt.
Vielleicht, weil jeder von ihnen zu respektieren gewusst hatte, wie es war,
wenn jemand um sein Überleben kämpfen musste.
Der Turm aus dem grauen Stein der Hochmark war gute zwanzig Längen
hoch, maß jedoch kaum vier Längen im Durchmesser und verjüngte sich nach
oben hin. Seine bescheidene Einrichtung bestand aus der Wachstube im
unteren Geschoss, mit den Schlafgelegenheiten und Vorräten für eine
fünfköpfige Wache, sowie der steilen Wendeltreppe, die zur Plattform
hinaufführte. Dort befand sich das gestapelte und mit Öl getränkte Holz,
welches im Gefahrenfall entzündet und zum Signalfeuer wurde.
Noch immer war keine einzige Bewegung oder irgendein Laut
wahrzunehmen, und die Stille wurde den fünf Männern zunehmend
unheimlich.
»Hier steht Kormund, vom ersten Beritt des Pferdefürsten der Hochmark«,
rief Kormund mit lauter Stimme und zog instinktiv sein Schwert aus der
Scheide. Hinter ihm erklang sogleich das leise Zischen anderer Schwerter, die
gezogen wurden, und Lukan nahm seine große Kriegsaxt schlagbereit auf die
Schulter.
»Die Tür steht offen«, knurrte Lukan. »Und sie scheint mir unbeschädigt.«
»Sehen wir nach, was das Schweigen zu bedeuten hat.« Kormund drückte
die massive Eisentür des Turmes auf, in die das Wappen der Hochmark
eingearbeitet war.
Sie waren nun alle darauf gefasst, das ein oder andere Schrecknis zu
Gesicht zu bekommen, doch was sie vorfanden, war nichts als Leere – was
furchtbar genug war. Lukan stieg bis zur Plattform hinauf und kam mit
grimmigem Gesicht wieder herunter. »Die Plattform ist leer. Dort oben ist
nichts, versteht Ihr? Kein Holz, kein Öl, keine Wache.«
Von diesem Turm aus würde es also so rasch kein Signalfeuer geben
können. Doch wo war die Wache? Was war hier vorgefallen? Auch der
Aufenthaltsraum im Turm war gespenstisch leer. Tische und Bänke, sogar die
Bettstätten waren von hier entfernt worden. Nur noch ein paar Abdrücke im
staubigen Boden verrieten, wo sie gestanden hatten. Die Möbel waren ebenso
spurlos verschwunden wie die fünf Wachen.
Kormund nickte langsam. »Man hat alles entfernt, was brennen könnte.«
»Es soll kein Signalfeuer von hier aus geben«, stimmte Lukan zu. »Keine
Warnung.«
Sie suchten nun den Boden und die Wände nach Spuren eines Kampfes ab
und endlich wurden sie fündig. Dort, wo eines der Betten gestanden hatte,
fanden sie ein paar eingetrocknete Flecken.
»Blut«, brummte Lukan und betrachtete die Flecken. »Es sieht so aus, als
habe man eine der Wachen im Bett getötet.« Er sah zu Kormund auf.
»Wahrscheinlich überfiel man sie in der Nacht, überwältigte irgendwie die
Türwache, drang in den Turm ein und tötete, bevor die Schlafenden sich
ernsthaft wehren konnten.« Lukan erhob sich und trat nahe an die Wand
heran, wo er die Decke musterte. Er wies auf weitere kaum sichtbare Streifen
bräunlicher Färbung, die an der Decke entlangführten. »Schwert oder Axt,
und man hat mehrmals zugeschlagen. Nein, Freund Kormund, wir werden
hier keine Wachen mehr finden. Zumindest keine lebenden.«
Die anderen Männer warteten nervös vor dem Turm, und Lukan wollte
gerade wieder zu ihnen hinausgehen, als sein Freund ihn zurückhielt. »Wir
müssen uns vergewissern, ob dies auch für das vordere Feuer am Eingang des
Passes gilt«, sagte Kormund missmutig. »Ich weiß, mein Freund, dass es
wahrscheinlich so sein wird. Aber Garodem braucht Gewissheit.«
»Wenn es hier Brennbares gäbe, Freund Kormund, dann würde ich jetzt
ein Feuer anzünden.« Lukan stützte sich auf seine Axt. »Danach könnten wir
immer noch zum Passeingang reiten. Wenn wir reiten, ohne Eternas gewarnt
zu haben, dann könnten wir in eine Situation kommen, in der uns das später
nicht mehr gelingt.«
Kormund scharrte mit der Fußspitze im Staub des Bodens. »Und wenn dies
nur der Überfall einiger Geächteter war? Die nur ein paar Tage Zeit gewinnen
wollten, um ungestört ein wenig plündern zu können?«
Lukan lachte spöttisch auf. »Ihr wisst selbst, dass dies kein kleiner Trupp
Geächteter war. Eine Handvoll Männer hätte sich nachts einfach
vorbeigeschlichen. Hier steckt mehr dahinter, und das wisst Ihr.«
Kormund schlug seinem Freund auf die Schulter, von der etwas Staub
aufstieg. »Aber gilt es uns, der Hochmark? Oder gilt es der Westmark und
dem Land des Königs? Ihr wisst, was davon abhängt, dies in Erfahrung zu
bringen. Am vorderen Ende des Passes werden wir einen Teil der Westmark
bis hin zu den Feuern des Königs überblicken können. Dann werden wir auch
wissen, wo der unbekannte Feind zuschlagen will.«
»Dann schickt wenigstens einen Boten, der Garodem berichtet, was wir
hier entdeckt haben.« Lukan spuckte auf den Boden und strich Kormunds
Hand von seiner Schulter.
»Wir reiten zuerst zum vorderen Feuer«, entschied Kormund. Er war sich
nicht sicher, ob diese Entscheidung richtig war, und spürte gleichzeitig zum
ersten Mal, dass Lukan bereit war, sich ihm zu widersetzen. Doch er,
Kormund, war der Scharführer und musste daher die Entscheidung treffen.
»Wir werden vorsichtig und kampfbereit sein, und beim ersten Zeichen von
Gefahr kehren wir um, das verspreche ich Euch, mein Freund.«
Lukan rang mit sich und nickte dann zögernd. »Gut. Wenn Ihr es so
entscheidet. Doch dann lasst mich die Spitze einnehmen, meine Instinkte
scheinen mir besser als die Euren zu sein. Und lasst den jungen Parem ganz
hinten reiten. Er ist der Jüngste und Leichteste von uns allen, und sein Pferd
ist noch am frischesten.«
»So machen wir es«, stimmte Kormund