Eine Partie Monopolygamie. Kolja Menning
früher mal ein S war, kenne ich mich noch lange nicht mit der französischen Sprache aus, doch ich lasse das so stehen. Darum geht es auch nicht.
»Wirklich clever«, sage ich mehr zu mir selbst. »Fairly and sustainably made – oder auch Fair-S-Made – das klänge nicht gut. Außerdem ist es bestimmt viel einfacher, mit einem Namen wie Fair^Made eine Marke aufzubauen. Es ist einfach, eingängig und passend – und dank dieses einen kleinen Zeichens, des Akzents, ist es tiefgründiger als einfach nur FairMade ohne Akzent.«
Ich blicke Viktoria an.
»Bitte entschuldigen Sie«, sage ich schnell. »Ich habe nur laut gedacht. Ich hätte das für mich behalten sollen.«
»Nein, nein, überhaupt nicht! Das war recht beeindruckend«, beeilt sie sich zu antworten. »Haben Sie noch weitere Fragen?«
Ich zögere einen Moment.
»Wie sieht der weitere Prozess aus? Wann werden Sie sich entscheiden?«, frage ich schließlich.
»Geben Sie uns eine Woche«, erwidert Viktoria. »Heute ist Freitag. Bis spätestens nächsten Freitag sollten Sie von uns gehört haben. Ich will ganz offen mit Ihnen sein: Wir haben noch ein paar Interviews in der kommenden Woche. Die will ich unbedingt abwarten. Wie Sie wissen, haben wir bei Fair^Made eine sehr ehrgeizige Vision: die Welt ein kleines bisschen besser machen. Deswegen wollen wir auch nur die Besten.«
Ich spüre, wie sich ein Kloß in meinem Hals formt. Die Besten – dazu gehöre ich eindeutig nicht. Mir ist klar, was das für meine Erfolgsaussichten bedeutet. Ich hasse, dass ich ihr eigentlich gar keinen Vorwurf machen kann. Sie will wirklich ein guter Mensch sein. Will die Welt verbessern. Und wahrscheinlich tut sie das sogar.
Aber nicht meine Welt.
Wenn du die Welt verbessern willst, dann solltest du nicht nur die Besten einstellen, will ich ihr ins Gesicht schreien. Stell Leute wie mich ein! Gib uns, die wir nicht zu den Besten gehören, die Chance, die uns sonst niemand gibt! Damit kannst du die Gesellschaft gerechter – und damit die Welt besser – machen!
Doch natürlich sage ich das nicht. Obwohl wir in derselben Stadt wohnen, lebt sie in einer anderen Welt. Sie lebt in der Welt, in der man sich erlauben kann, idealistisch zu denken und mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen. Ich stehe auf der anderen Seite. Sie kennt diese Seite nicht und kann mich, so wie ich wirklich bin, gar nicht sehen. Also sage ich: »Genau deshalb möchte ich gern Teil des Teams werden.«
Hört sie, wie meine Stimme, die im Laufe des Interviews an Zuversicht gewonnen hatte, wieder zittert?
»Ausgezeichnet«, sagt sie und lächelt. »Weitere Fragen?«
Ich schüttle den Kopf.
»Dann habe ich nur noch ein paar Formalitäten. Falls wir uns entscheiden, Ihnen ein Angebot zu machen. Arbeitszeit sind vierzig Stunden pro Woche. Bei Fair^Made haben wir das Prinzip der Vertrauensarbeitszeit – das heißt, Stunden werden nirgends festgehalten. Es gibt dreißig Tage bezahlten Urlaub. Das Gehalt für diese Rolle ist fünfzigtausend Euro brutto pro Jahr. Anders als es in anderen Unternehmen sein mag, ist das nicht verhandelbar. Es gibt ein paar weitere Benefits: Wir haben eine Partnerschaft mit einem Fitness-Studio. Fair^Made übernimmt die Hälfte des Mitgliedsbeitrags, falls Sie das interessiert. Im Büro gibt es kostenlos Kaffee, Tee, Mineralwasser, Bio-Milch und Bio-Obst.«
Ihre letzten Punkte registriere ich kaum noch. Fünfzigtausend Euro pro Jahr??? Ich kann meinen Ohren kaum trauen. Mit der Hälfte wäre ich glücklich gewesen. Unzählige Gedanken schießen mir durch den Kopf. Wie können vierzig Stunden pro Woche meiner Zeit fünfzigtausend Euro wert sein? Was würde mein Einkommensteuersatz sein? Was würde ich mit so viel Geld machen? Bis mir noch etwas klar wird: Ich habe ganz offensichtlich unterschätzt, was eine Executive Assistentin ist. »Deswegen wollen wir auch nur die Besten«, hat Viktoria gesagt. Jetzt verstehe ich. Und ich erkenne, dass ich mich eine halbe Stunde lang dazu habe verführen lassen, von einem Leben auf der anderen Seite zu träumen.
Als Viktoria sich erhebt und mir die Hand reicht, folge ich mechanisch ihrem Beispiel. Ich glaube, ich bringe ein Lächeln zustande. Sie geleitet mich sogar persönlich zum Ausgang, wo sie mir erneut die Hand reicht und mir ein schönes Wochenende wünscht. Ich schaue ihr nach, als sie sich umdreht und wieder im Gebäude verschwindet. Intelligent, erfolgreich, idealistisch, privilegiert und voller natürlicher Eleganz. Ich wende mich meinerseits ab, bevor der Neid die Oberhand gewinnen kann. Fast bin ich erleichtert, dass ich sie wohl nie wieder sehen werde.
Erster Teil:
Das Leben anderer
Der 2006 erschienene Film »Das Leben der Anderen« ist für mich einer der schönsten deutschen Filme überhaupt. Dabei braucht man heutzutage dank Internet und sozialer Netzwerke gar kein Agent der Stasi mehr zu sein, um intime Einblicke in das Leben anderer zu erhalten. Eigentlich lässt es sich kaum vermeiden. Man müsste schon mit geschlossenen Augen und Ohren durch die Welt gehen.
Ich habe eine ganz gute Vorstellung von dem Leben von Leuten wie Viktoria König, auch wenn es für mich unerreichbar ist und ich es nur als neidische Beobachterin wahrnehme. Doch auch mein Alltag erlaubt es mir, Einblicke in die Leben anderer zu bekommen. Das ist nicht immer glamourös. Dennoch weckt es regelmäßig Sehnsüchte in mir. Sehnsüchte nach einem Leben, das ich nicht habe. Gleichzeitig habe ich oft den Eindruck, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, dessen Leben niemanden interessiert. Dessen Leben niemand führen wollen würde. Und dann frage ich mich, ob es nur mir so geht.
Kapitel 1
Ich stehe noch eine Weile vor dem Fair^Made-Bürogebäude. Keine Ahnung, woran ich denke. Ich starre auf das Logo über dem Eingang: ein unvollständiger Kreis, der von einem gelben Blitz – der, wie ich jetzt weiß, kein Blitz, sondern ein S ist – in zwei Teile geteilt wird; die eine Seite ist blau, die andere grün. Unten ist der Kreis offen. Unser aus Wasser und Land bestehender Planet, der auf der Kippe steht. Immerhin habe ich das heute gelernt.
Schließlich gebe ich mir einen Ruck. Es ist höchste Zeit, dass ich in meine Welt zurückkehre. Es ist kurz nach elf, und eigentlich sollte ich schon seit zehn bei den Grafs putzen. Glücklicherweise ist es nicht weit. Als ich um die erste Straßenecke gebogen bin, ersetze ich die Schuhe mit dem Absatz durch ein paar billige Laufschuhe von Decathlon und marschiere los.
Die Wohnung der Grafs ist wie immer verlassen. Die fünfzig Euro für die vier Stunden, die ich hier putzen soll, liegen wie immer auf der kleinen Kommode im Flur. Nachdem ich meine Schuhe ausgezogen habe, laufe ich kurz durch die Wohnung, um mir ein Bild von der Situation zu machen. Erleichtert stelle ich fest, dass die übliche Ordnung herrscht. Wenn ich mich ranhalte, schaffe ich es vielleicht in drei Stunden. Länger kann ich nicht bleiben, denn heute Nachmittag gebe ich einen meiner wenigen Yogakurse.
Gut kenne ich die Grafs nicht. Oder den Grafen und die Gräfin, wie ich sie nenne. Als sie mich vor drei Jahren eingestellt haben, um bei ihnen einmal pro Woche zu putzen, habe ich die Gräfin kennengelernt. Ich vermute, dass sie ungefähr in meinem Alter ist. Der Graf ist mir ein paar mal über den Weg gelaufen, weil er etwas zu Hause vergessen hatte. Ich schätze ihn auf Mitte vierzig. Ich habe keine Ahnung, was genau sie tun; sie haben jedoch keine Kinder, und ich bin mir recht sicher, dass sie beide leitende Angestellte in irgendwelchen Unternehmen sind. Die Kommunikation mit ihnen läuft fast ausschließlich per WhatsApp, sie zahlen verlässlich, und ihre Wohnung ist nie übermäßig schmutzig. Sie ist groß, vielleicht hundertfünfzig Quadratmeter, verfügt über zwei Schlafzimmer, zwei Badezimmer und ein großes Wohnzimmer mit eleganter offener Küche und natürlich einem großen Balkon. Über die Jahre habe ich mir ein Bild von den Grafs gemacht. Ich bin mir sicher, dass sie beide deutlich mehr verdienen als die fünfzigtausend Euro, die Fair^Made einer Executive Assistentin im Marketing bezahlt. Sie können sich alles leisten, was sie wollen, davon zeugt ihre Wohnung, doch richtig reich sind sie nicht. Am Schlüsselbrett hängt ein Schlüssel zu einem BMW. Ein recht neuer 5er, wie ich von einem Abstecher in ihre Garage vor ein paar Monaten weiß.