Eine Partie Monopolygamie. Kolja Menning
Möglichkeit besteht«, gibt Frau Wagner zu. »Ich habe das mit Herrn Stein auch diskutiert. Doch er hält das für unwahrscheinlich.«
»Wieso?«
»Weil es noch einen dritten Schüler gibt, der genau die gleichen Fehler gemacht hat. Die drei Jungs saßen auch nebeneinander – aber Gwenael saß nicht in der Mitte. Herr Stein geht also davon aus, dass die beiden Äußeren von dem, der in der Mitte gesessen hat, abgeschrieben haben.«
Ich sehe ein, dass das plausibel klingt. Aber wieso sollte Gwenael so etwas tun? Selbst wenn er sich auf die Klassenarbeit nicht vorbereitet hätte, hätte er nie im Leben eine Sechs geschrieben.
»Leider ist das nicht alles«, unterbricht Frau Wagner meine Gedanken.
»Was?«
»Gwenaels Verhalten hat sich in den letzten Wochen geändert. Hat es irgendeine Veränderung in seinem Leben gegeben?«
Sie blickt mich erwartungsvoll an. Ein bisschen wie Viktoria König am Freitag, wenn sie mir Fragen stellte. Ich überlege kurz.
»Hm ... nein«, erwidere ich dann zögernd. »Was hat sich denn an seinem Verhalten verändert?«
»Er ist noch stiller geworden«, sagt Frau Wagner ernst. »In meinem Deutschunterricht sagt er fast gar nichts mehr. Er macht zwar die Hausaufgaben immer – und das auch immer sauber und gut. Aber er meldet sich nie mehr, trägt nur etwas zum Unterricht bei, wenn ich ihn direkt anspreche. Außerdem verbringt er mehr Zeit mit den zwei Jungs, mit denen er auch während der Klassenarbeit zusammensaß.«
Frau Wagner beugt sich vor und dämpft die Stimme, bevor sie fortfährt: »Ich sollte das nicht sagen – aber diese zwei sind keine gute Gesellschaft für Ihren Sohn! Sie sind ein Jahr älter als alle anderen und zwei ziemliche Störenfriede.«
So langsam beginne auch ich, mir Sorgen zu machen. Habe ich etwas verpasst?
»Mir ist nichts aufgefallen«, sage ich.
»Verbringen Sie viel Zeit mit Ihrem Sohn, Frau Nussbaum?«
»Hm, ja«, erwidere ich unsicher.
Ich komme immer zwischen 17 Uhr und 17.30 Uhr nach Hause – montags eine Stunde früher und mittwochs bin ich schon zu Hause, bevor Gwenael und Désirée von der Schule kommen. Es stimmt, dass meine beiden Großen an den anderen Tagen allein von der Schule nach Hause kommen und ein bis zwei Stunden allein sind – doch meines Wissens machen sie da immer ihre Hausaufgaben. Oder Gwenael zumindest. Kann es sein, dass in dieser Zeit noch anderes passiert, von dem ich nichts weiß?
»Ich würde mich nicht einmischen, wenn Gwenael einfach nur ein paar andere Freunde hätte. Kinder entwickeln sich – und damit auch die Affinitäten untereinander«, fährt Frau Wagner fort. »Anfangs habe ich sogar gehofft, diese neue Freundschaft könnte sich positiv auf die beiden anderen Jungs auswirken. Gwenael ist ein sehr guter Schüler. Die beiden Jungs ... nicht. Ich meine sogar, sie hätten mal zusammen Hausaufgaben gemacht. Aber leider scheint Gwenael sich auch von den beiden beeinflussen zu lassen.«
»Inwiefern?«
»Nun, wie ich schon sagte, er beteiligt sich kaum noch am Unterricht. In den letzten zwei Wochen ist er nicht mehr zur Schach-AG gekommen. Und am Freitag hat er zwei Stunden geschwänzt.«
»Was??«
»Während der Doppelstunde Englisch hat er sich unentschuldigt vom Unterricht ferngehalten«, erklärt Frau Wagner. »Anschließend in Deutsch war er wieder da. Ich wusste schon davon, deswegen habe ich ihm die Nachricht an Sie mitgegeben.«
Ich starre Frau Wagner an, während sich in meinem Kopf unangenehme Gedanken jagen.
»Frau Nussbaum«, fährt sie eindringlich fort, »Gwenael ist ein lieber Junge. Aber irgendwas ist los. Vor ein paar Monaten habe ich in meinem Deutschunterricht angekündigt, dass wir uns mit den griechischen Göttern befassen würden. Die meisten Schüler haben aufgestöhnt. Das sei doof, öde oder bestenfalls langweilig. Doch Gwenael hat einen fünfminütigen Vortrag zu den Göttern gehalten und das so unterhaltsam gemacht, dass er fast alle seine Mitschüler überzeugt hat, den griechischen Göttern zumindest eine Chance zu geben. Völlig unvorbereitet! Ich war höchst beeindruckt. Und das ist noch eine Untertreibung. Aber jetzt ist er anders. Die Häufung untypischer Verhaltensweisen in der letzten Zeit muss einen Grund haben. So kann es nicht weitergehen!«
Ich kann ihr nur beistimmen. Aber was zum Teufel ist los? Er war auch nicht bei der Schach-AG, was sonst das Highlight seiner Woche ist? Was habe ich verpasst?
»Ich werde ein ernstes Gespräch mit Gwenael führen«, stammele ich. Meine Nervosität ist deutlicher zu hören als während des Jobinterviews bei Fair^Made.
Frau Wagner nickt. »Es sind nur noch zwei Wochen bis zu den Sommerferien. Vielleicht braucht Gwenael einfach nur etwas Luftveränderung.«
Ich nicke. Die Kinder werden drei der sechs Wochen im Norden von Brandenburg verbringen, wo meine Mutter allein in einem alten Haus wohnt. Ob das als Luftveränderung gilt, weiß ich nicht, doch einen richtigen Urlaub können wir uns nicht leisten.
Kapitel 3
Ich kenne die Kramers nicht besonders gut, doch ich mag sie nicht. Bei unseren wenigen Begegnungen haben sie mich immer spüren lassen, dass sie sich für etwas Besseres halten. Leider bin ich auf ihr Geld angewiesen. Dieses Geld deponieren sie immer auf dem Küchentisch. Heute liegen dort genau siebenunddreißig Euro und fünfzig Cent. Wegen des Termins in der Schule habe ich gestern per WhatsApp angefragt, ob ich eine Stunde später anfangen und auch aufhören könnte. Nein, das ginge leider nicht, weil sie um 16.15 Uhr nach Hause kämen und dann in Ruhe ihren Feierabend genießen wollten. Es wäre aber ausnahmsweise in Ordnung, wenn ich nur drei Stunden putzte. Selbstverständlich würden dann auch nur drei Stunden bezahlt.
Sie haben nicht einmal auf vierzig aufgerundet. Neben dem Geld liegt ein Zettel, auf dem steht, was ich machen soll. Putzen wie immer und dann die Wäsche legen.
Um Punkt 16 Uhr schließe ich die Wohnungstür ab, schwinge mich auf mein Fahrrad und fahre zur Kita.
Als ich in der Kita ankomme, spielt Emil noch mit seinem Freund Andy Fußball im Hof. Einen Moment lang schaue ich ihnen zu, ohne dass sie mich bemerken. Dann erspäht mich Andy, zeigt in meine Richtung und sagt etwas zu Emil, der sich zu mir umdreht. Für den Bruchteil einer Sekunde befürchte ich, er könnte sich beschweren, dass ich zu früh da bin. Sogar Andy ist noch nicht abgeholt worden. Doch dann strahlt er, schreit »Abgeholt!« und rennt auf mich zu.
Als wir kurz darauf auf meinem Fahrrad nach Hause fahren, schmiegt er sich von seinem Kindersitz an meinen Rücken; ein Moment, der diesen bis dahin verkorksten Tag für mich zumindest teilweise rettet.
Gwenael hat noch bis 17.30 Uhr Fußballtraining, und da ich Désirée für noch zu jung halte, um alleine zu Hause zu sein, ist sie bei Herrn und Frau Jones, wo sie vermutlich die von mir heute Morgen frisch geputzte Wohnung wieder durcheinanderbringt. Als wir sie abholen, steht sie auf einem Stuhl in der Küche und hält ein Messer und ein Ei in der Hand, während Frau Jones mit einem Mixer hantiert.
»Hallo Mama!«, ruft sie fröhlich, »wir machen Butterkuchen.«
Sie schlägt kräftig mit dem Messer auf das Ei in ihrer Hand, sodass es zerbricht und mindestens die Hälfte der Schale auch in die Rührschüssel fällt.
»Der wird bestimmt lecker«, bemerke ich.
»Elli sagt das auch«, verkündet Désirée.
Elli, das ist Frau Jones. Elizabeth Jones. Elli für Désirée, die Frau Jones besonders ins Herz geschlossen hat.
»Kommst du mit runter? Wir sind jetzt da«, sage ich zu Désirée.
»Aber der Kuchen ist doch noch gar nicht fertig!«
Ich zögere und werfe Frau Jones einen Blick zu.
»Maybe she can stay until we put it in the oven«, sagt Frau Jones zu mir.