Eine Partie Monopolygamie. Kolja Menning
miteinander? Oder befinden sie sich in einer Midlife-Crisis? Wenn ich Veränderungen in ihrer Wohnung entdecke, frage ich mich manchmal, was diese wohl bedeuten. Vor gut einem Jahr hat der Graf sich ein Paar neue Laufschuhe der Marke Asics zugelegt, etwa zeitgleich tauchte im Gästezimmer ein Hometrainer auf. Vielleicht haben die Grafs den Beschluss gefasst, mehr Sport zu treiben. Oder hatte die Gräfin den Grafen darauf hingewiesen, dass er etwas zu viel Bauch bekam? Oder trainierte der Graf für einen Marathon? Letzteres hat sich als unwahrscheinlich herausgestellt, denn die Laufschuhe werden nur selten genutzt. Einmal habe ich sogar die Schnürsenkel der beiden Schuhe aneinandergebunden – und nach vier Wochen hatte sich das nicht geändert. Ein andermal habe ich einen ziemlich großen Dildo in einem Karton unter dem Ehebett gefunden, der eine Woche zuvor mit Sicherheit noch nicht dort gewesen war. Hatte der Graf ihn der Gräfin geschenkt? Ich gestattete mir einen einminütigen imaginären Abstecher in das Leben der Grafs. Mehr nicht. Meine letzte sexuelle Beziehung war die mit Guillaume. Als wir Emil vor sechs Jahren gezeugt haben, hatten wir das letzte Mal Sex. Dass Emil dabei passieren würde, war nicht geplant. Als sich die Schwangerschaft kurz darauf offenbarte, riss Guillaume aus.
»Trois, c’est trop!«, schrie er. »J’en peux plus!« Und dann war er weg. Ich glaube nicht, dass es viel geändert hat. Die Ankündigung, dass Emil auf dem Weg war, mag die Dinge beschleunigt haben. Doch auch mit Gwenael und Désirée war Guillaume bereits überfordert. Es war ihm nie gelungen, eine väterliche Beziehung zu ihnen aufzubauen. Er hatte es auch nie wirklich versucht. Ob drei für mich allein nicht möglicherweise auch zu viel sein könnte, hat ihn nie interessiert.
Nach knapp drei Stunden ist die Wohnung der Grafs sauber. OK, die Schlafzimmerfenster habe ich nicht mehr geschafft.
Als ich vor der Kommode im Flur stehe, zögere ich einen Moment. Eigentlich stehen mir die fünfzig Euro nicht zu. Fünfzig Euro für vier Stunden. Das ist die Vereinbarung, an die ich mich auch fast immer halte. Ich frage mich, was Viktoria König tun würde. Würde sie den Schein nehmen, dann aber zwölf Euro fünfzig als Wechselgeld hinlegen? Mit einer entschuldigenden Notiz? Oder würde sie beim nächsten Mal eine Stunde früher kommen? Ja, ich bin mir ziemlich sicher, dass sie eine dieser Optionen wählen würde. Andererseits würde Viktoria König nie die Wohnung anderer Leute putzen. Und ich bin nicht sie. Ich bin ich. Ich kann mir diese Ehrlichkeit nicht leisten. Also stecke ich das Geld ein und eile los.
Der Yogakurs, den ich freitagnachmittags gebe, dauert neunzig Minuten und findet jede Woche statt. Ich unterrichte drei Mütter Mitte vierzig mit ihren Töchtern, die zwischen zwölf und vierzehn sind. Die drei Frauen gehören zu jenen Müttern, die sehr viel für ihre Kinder geopfert haben. Eine der drei arbeitet halbtags, eine andere freiberuflich als Übersetzerin, die Dritte arbeitet nicht. Alle drei sind für ihren Lebensstil auf die Gehälter ihrer Ehemänner angewiesen. Sie achten auf ihre Ernährung, kaufen fast ausschließlich Bio und machen Yoga mit ihren Töchtern, weil sie fest davon überzeugt sind, dass dies gut für die Mädchen ist. Wahrscheinlich haben sie recht. Sie nehmen das Training ernst, sind immer pünktlich und zahlen sechzig Euro für neunzig Minuten. Brutto. Denn von meiner Tätigkeit als Yogalehrerin weiß das Finanzamt, während es sich mit dem Putzen etwas anders verhält. Da die Stimmung mit den sechs Mädels, wie ich sie gern anspreche, immer gut ist, ist es mein Lieblingskurs. Hier kann sogar ich mich entspannen.
Der Kurs mit ihnen ist vor gut einem Jahr zustande gekommen, was ich meinem älteren Sohn Gwenael zu verdanken habe. Gwenael ist zehn, und einer seiner Klassenkameraden ist der Sohn einer der drei Frauen – und entsprechend der kleine Bruder eines der Mädchen.
Meist treffen wir uns bei einer der Familien zu Hause, wo sich ein riesiges Wohnzimmer ideal für Yoga eignet. Doch heute ist gutes Wetter, daher treffen wir uns im Volkspark Friedrichshain auf einer großen Wiese.
Nach dem Kurs bleiben die sechs Mädels im Park. Sie haben ein kleines Picknick vorbereitet, mit dem sie sich für ihre sportliche Leistung belohnen wollen. Sie laden mich ein, bei ihnen zu bleiben, doch ich lehne dankend ab. Wenn ich nicht spätestens in vierzig Minuten bei Emils Kita bin, wird er traurig. Normalerweise fahre ich mit dem Fahrrad. Doch heute bin ich wegen des Interviews bei Fair^Made mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren. Also haste ich zur nächsten Tram-Haltestelle und begebe mich auf den Weg quer durch Berlin.
Als ich bei der Kita ankomme, empfängt Emil mich mit vorwurfsvollem Blick.
»Du bist zu spät«, sagt er trotzig.
Ich gucke auf eine große Wanduhr. Er hat recht. Ich bin zehn Minuten später da als üblich. Eigentlich gibt es keine festen Abholzeiten, doch ab dem Moment, wo sein Freund Andy abgeholt wird, sitzt er vor der Uhr und zählt die Minuten. Andy wird von seinem Vater immer pünktlich um halb fünf abgeholt. Fünfzehn Minuten später darf ich kommen. Darauf haben Emil und ich uns geeinigt. Ich habe ihm erklärt, warum ich es früher nicht immer schaffen kann, und er hat das eingesehen. Aber fünfundzwanzig Minuten sind nicht OK.
»Es tut mir leid«, sage ich. Er ist in einer Phase, in der er sehr auf Vereinbarungen achtet. Deswegen versuche ich weder, mich herauszureden, noch weise ich darauf hin, dass ich ihn gestern eine halbe Stunde vor Andy abgeholt habe, was nur möglich war, weil die Eichners mir kurzfristig mitgeteilt hatten, dass ich diese Woche nicht zu putzen bräuchte, wodurch ich fünfzig Euro weniger im Portemonnaie habe.
Vor der Kita sieht er sich um.
»Wo ist denn dein Fahrrad?«, fragt er.
»Ich bin heute nicht mit dem Fahrrad gekommen«, antworte ich, und seine Miene verfinstert sich.
»Ich will nicht laufen«, erklärt Emil. »Ich will in den Kindersitz.«
»Es ist doch nicht weit«, versuche ich es mit Geduld. »Nur zehn Minuten.«
»Zehn Minuten ist nicht nur. Zehn Minuten ist viel. Du bist zehn Minuten zu spät gekommen, und ich hab’ gewartet. Jetzt bin ich müde.«
Ich blicke ihm in die Augen.
»Und was schlägst du vor?«, frage ich ihn und warte.
Er überlegt.
»Du läufst nach Hause und holst dein Fahrrad«, sagt er dann. »Ich warte hier.«
»Oder ich laufe nach Hause und bleibe da«, sage ich. »Du kannst gern hier warten, bis die Kita morgen wieder aufmacht.«
»Morgen ist keine Kita, morgen ist Wochenende«, entgegnet er. »Außerdem darfst du das nicht.«
»Und wieso nicht?«
»Weil du meine Mama bist und du auf mich aufpassen musst«, erklärt er.
Wenn er so was sagt, erweicht es mir immer das Herz. Ich strecke meine Hand aus.
»Komm!«, sage ich sanft.
Er blickt einen Moment lang auf meine Hand. Schließlich ergreift er sie und stapft ohne ein weiteres Wort los.
Als wir nach Hause kommen, sind Gwenael und Désirée bereits da.
»Mama!«, ruft Désirée freudig, als sie die Wohnungstür hört, und kommt auf mich zugestürmt.
»Hallo, mein Schatz«, sage ich und schließe sie in die Arme. »Wie war’s in der Schule?«
»Frau Bauer hat gesagt, du musst das Geld für die Klassenkasse noch bezahlen.«
Ach, ja. »Mach’ ich.«
»Aber heute.«
»Versprochen.«
»Wo ist denn dein Bruder?«, frage ich sie, nachdem ich meine Schuhe ausgezogen und meine Tasche abgelegt habe.
»In seinem Sessel.« Désirée hüpft fröhlich von einem Bein aufs andere.
»Er liest«, fügt sie hinzu und rollt mit den Augen, als wäre unverständlich, wie jemand freiwillig so etwas tun könnte.
Wie die Grafs haben auch wir eine Wohnküche. Kleiner. Älter. Weniger aufgeräumt und vor allen Dingen mit deutlich weniger hochwertigem Mobiliar ausgestattet. Das neueste Möbelstück in unserer bunten Sammlung ist ein ziemlich siffiger Sessel,