Randwelten. Sarah L. R. Schneiter
„Wer bist du und was um alles in der Galaxis machst du hier?“, forderte er zu erfahren. Endlich war Nani nahe genug um zu sehen, dass der asiatischstämmige Mann relativ jung war, höchstens zwanzig, noch ein Teenager. „Ich bin Nani“, begann sie und deutete auf ihre abgetragene Uniform. „Sorry, Officer Walji, Flotte der Vereinten Systeme.“ Beinahe brach sie in Gelächter aus, ihr letztes Gespräch war Wochen her und ihr militärischer Rang wäre sowieso wertlos.
Er atmete hörbar auf, senkte seinen improvisierten Speer und marschierte sich auf sie zu. Schalk war seiner Stimme anzuhören: „So, Officer Nani, hast du dich beim Training verlaufen und deswegen in diesem Höllenloch gelandet? Da bist du aber sehr weit weg von der Raumflotte. Ich heiße übrigens Han.“
„Lange Geschichte“, antwortete Nani trocken und setzte sich. Sie verspürte kein Bedürfnis, sich daran zu erinnern, wie ihre Einheit auf diesem postapokalyptischen Planeten niedergemacht worden und sie als einzige entkommen war. Die Bilder der zerfleischten Körper ihrer Kameraden reichten ihr für schlaflosen Nächte, sie wollte sich lieber über Lebende unterhalten. „Hast du ein funktionierendes Com? Und wenn ich schon dabei bin, dich auszufragen: Wieso hattest du Angst vor mir?“
„Com?“ Der Junge konnte nicht anders, er brach in Gelächter aus. „Glaubst du denn, wenn ich mit einem Com um Hilfe rufen könnte, hätte ich das nicht längst getan? So vor fünf Jahren vielleicht, als alles vor die Hunde ging?“ Er fasste sich. „Ich fürchtete, du seist eine von den Jägern oder den Jiāngshī.“
„Jäger?“ Auch wenn Nani kein Mandarin sprach, so war sie lange genug auf dem Klumpen, um den Namen, den die Einheimischen ihren Monstern gaben, sofort zu verstehen.
„Ja, Jäger.“ Offenbar brauchte Han einen Moment, um zu begreifen, dass sie keine Ahnung hatte. „Oh, du bist ein Landei. Jäger nennt man Gruppen, die in der Stadt andere ausrauben.“
„Na, super“, seufzte Nani und dachte an den niederen Ladestand ihres Blaster-Magazins. „Hast du einen sicheren Ort für ein Nachtlager?“
Nani war noch immer erstaunt, wie rasch ihr Han vertraute, sie ohne Zögern zu sich in den Bunker eingeladen hatte. Sie wäre in einer Stadt, in der es plündernde Gaunerhorden gab, wesentlich weniger vertrauensselig zu Fremden, zerrissene Uniform hin oder her. Er hatte sie über einen verworrenen Weg ins Innere eines Gebäudes geführt, war zu ihrer Verwunderung dann nach unten gegangen, um schließlich in einem Bunker anzulangen.
Sich mit ihrer Hand durchs kurze, rote Haar fahrend, zeigte Nani mit einer Bewegung ihres Beins auf die verschlossene Tür. „Junge, wie verdammt nochmal hast du einen Bunker gefunden?“
Er zuckte vielsagend mit den Schultern. „Glück? Sturheit? Das Ding ist solide, übersteht sogar eine Atombombe.“
„Nur leider gibt es kein Com, mit dem ich Verstärkung rufen kann.“
„Ach, hör auf zu jammern und mach es dir auf der Couch bequem“, gluckste er und trat in eine Kochnische, wo er Wasser aufsetzte. „Ich habe was aus diesem Ort gemacht.“
„Wo du’s sagst …“ Tatsächlich war der Bunker wohnlich eingerichtet, er hatte gar einige Lichterketten aufgehängt. „Übrigens, woher kriegst du Strom?“
„Erdwärme, ist eine autarke Anlage“, erklärte er mit jugendlicher Nonchalance. „Meine Essensrationen werden dafür echt knapp, mit den Jägern da draußen gibt es bald nichts mehr zu plündern.“ Da Nani nichts erwiderte, erkundigte er sich stattdessen: „Und wie lange bist du schon hier, weit weg von zuhause?“
„Fünf Monate“, gab Nani, der kaum danach war, über ihre Erlebnisse zu sprechen, zurück.
Er lachte lustlos. „So ein Blödsinn, euch herzuschicken. Als ob Soldaten gegen die Jiāngshī eine Chance hätten. Na, wart ihr viele? Hundert? Tausend? Zehntausend?“
„Lassen wir das lieber“, brummte Nani und biss sich ein Stück von ihrem Energieriegel ab. Sie sah sich in dem heimelig eingerichteten Bunker um, dieser sah ganz so aus, als ob Han den Großteil der Apokalypse hier ausgesessen hatte. Ihre Aufmerksamkeit fiel auf ein Streichinstrument, das sie nicht genauer identifizieren konnte. „Spielst du?“
„Ja“, meinte er, überlegte dann aber kurz, bevor er hinzufügte. „Früher. Wunderkind und so. Jetzt … wieso sollte ich noch?“
„Weil du von diesem Ort wegkommen wirst“, versprach sie mit einer Bestimmtheit, die sie sich selbst nicht abkaufte. Insgeheim fragte sie sich, warum sie das Bedürfnis verspürte, einem Teenager, der offensichtlich längst an diese postapokalyptische Existenz gewöhnt war, Hoffnung zu versprechen. „Ich werde einen Weg von diesem elenden Klumpen weg finden und dich mitnehmen.“ Sie machte eine Pause, ob ihrer Hilfsbereitschaft überrascht; andererseits hatte ihr der Junge sogar ein Dach über dem Kopf geboten. Während Nani grübelte, war Han an seinen Holoplayer getreten und hatte auf das Wiedergabesymbol getippt. Sie fuhr zusammen, als auf einmal die vollen, warmen Töne eines Symphonieorchesters den Bunker erfüllten und wandte sich ihm zu. Andächtig stand Han vor dem Tisch, auf dem ein Hologramm projiziert wurde. Als Nani näherkam, konnte sie in der hinteren Reihe der Orchesterprojektion die jüngere Version ihres Gastgebers ausmachen, der seinen Bogen sanft über die Saiten seines Instruments gleiten ließ. Sie beobachtete Han, der seine Lider halb geschlossen hatte und eine Träne wegblinzelte, bis sie flüsterte: „Es klingt wunderschön.“
„Alle sind tot“, entgegnete er, zum Hologramm gestikulierend. „Meine Freunde, meine Lehrer, alle sind sie tot. Oder schlimmer … Jiāngshī.“
Untote, Wiedergänger, Infizierte, Zombies, Nani kannte für diese Kreaturen eine ganze Menge Namen. Ursprünglich war sie mit ihrer Einheit hierhergekommen, um herauszufinden, wie sich eine die Seuche auf dieser Welt derart rapide ausgebreiten konnte sowie um Bewohner zu evakuieren. „Meine Kameraden ebenfalls“, brummte sie und lauschte dem Requiem, den schönsten Klängen, die sie seit langem hörte. Ihre Waffe mit dem fast leeren Energiemagazin fühlte sich schwer an, ihr zerfledderter Kampfanzug bestenfalls wie alte Lumpen und doch empfand sie eine Entschlossenheit wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Sie schwor sich, dieses eine Leben zu retten und zu beschützen, koste es, was es wolle. Und sei es nur, damit dieser eine Junge wieder in einer Konzerthalle sitzen konnte. Da draußen waren Menschen, eine große, unvergessliche Galaxis; sie musste lediglich nach Hause finden. Endlich hatte sie wieder einen Grund, eine Aufgabe, ein Ziel, das sie um jeden Preis erreichen wollte.
Winter im Tonstudio
Der kalte Nachtwind fegte Nani vereinzelte Schneeflocken ins Gesicht und ihre Ohren schmerzten, zudem brannten ihre Lungen vom Aufstieg. „Sag mal“, begann sie und lehnte sich gegen eine Wand, „denkst du, wir schaffen es?“
„Hinauf? Keine Ahnung“, murmelte der Junge, alles andere als zuversichtlich. Er hatte seine abgewetzte Jeansjacke eng um seinen ausgemergelten Oberkörper geschlungen. Nani hatte seinem Schritt die Erschöpfung angesehen, zumindest beim Erklimmen der letzten fünf Stockwerke, weswegen sie die Pause vorgeschlagen hatte. Nun konnte sie sich das Amüsement nicht mehr verkneifen: „Nein, ich meine eher, ob der Sender funktioniert.“
„Hm.“ Han wollte sich offenbar auf keine genauere Prognose zu seinem gewagten Plan einlassen und Nani entschied sich dagegen, ihn zu löchern. Sie betrachtete die Umrisse der Ruinenstadt unter ihnen; einzig deren schneebedeckte Flecken wurden von den zwischen den Wolken auftauchenden drei Monden erhellt. Ab und an drang ein schauriges, entferntes Röcheln zu ihnen, das sie beide ignorierten. Stattdessen meinte Han schlotternd: „Ich glaube, unsere Strategie geht auf. Die Jiāngshī sind ruhiger, die Jäger verkriechen sich, weil sie in der Nacht Angst haben, also …“
Ein Knurren ertönte hinter ihnen und Nani zog mit einer fließenden Bewegung den Blaster, mit dem ihr bestenfalls noch zehn Schuss blieben, aus dem Holster. Sie sprang auf, konnte in dem dunklen Büro aber nirgendwo eine Bedrohung ausmachen. „Fuck, wo ist das Ding?“
Als hätte der Zombie auf diese eine Frage gewartet, humpelte er vorwärts