Drachenkind. . . .

Drachenkind - . . .


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sich ›kleiner Drache‹. Ist das nicht süß? Oh, wir wussten alle, dass du schwul bist. Fick dich! Tragisch, ein Krüppeldrache! Hat ja nicht mal einen Schwanz … oh, doch, da! So klein, ich habe ihn übersehen. Sorry!«

      Eric sah ihn erstaunt und ärgerlich zugleich an. Dann drehte er sich zu Haku um, der gerade mit Duschen fertig war und wartete, dass der Ausgang frei würde.

      »Stimmt das? Weißt du, was es bedeutet?«

      Haku sah ihn an, als wäre er sich nicht sicher, ob er antworten wollte. Dann meinte er:

      »Ja. Es ist kein Japanisch. Hat bestimmt mehrere Bedeutungen. Altes Chinesisch. Frag Jack, der hat dir den Namen verpasst, oder?«

      Eric hörte sich noch eine Weile stumm das Gekicher und den Spott der anderen an, beobachtete aus den Augenwinkeln, wie außer Jan und seinen Kollegen niemand ihn so recht beleidigen wollte. Schließlich drehte er sich um und betrat seinen Stammplatz, die letzte Duschkabine, in der sich auch ein Waschbecken und ein Spiegel befanden. Als er auf die alte Glasplatte blickte und einen Sprung darin erkannte, durchfuhr ihn ein leichtes Schaudern. Mit dem Finger berührte er die Beschädigung, fühlte die scharfe Kante und starrte auf das von Feuchtigkeit und Kondenswasser milchige, verzerrte Spiegelbild. Er erinnerte sich wieder an seinen Traum, dachte an die kristallartige, merkwürdige und unendlich wirkende Barriere und etwas Lebendiges dahinter, für ihn unbeschreiblich beängstigend.

      Seit Jahren, eigentlich seit Anbeginn seiner Erinnerungen, hatte Eric nachts diese Träume. Sie entwickelten sich langsam weiter, wie der von letzter Nacht, ein anderer blieb sogar jedes Mal exakt gleich. Eric hatte gelernt, sie bedingt zu beeinflussen, konnte sich aber nicht gegen sie wehren. Sobald er einschlief, würden sie irgendwann kommen und ihn überfallen. Aufwachen war dann unmöglich. Nur durch den Tod würde er aus den Träumen herauskommen. Heute war das riesenhafte Ungetüm auf der anderen Seite erstmals kurz davor gewesen, die Barriere rechtzeitig zu durchbrechen, hatte es am Ende sogar geschafft. Eric schmunzelte müde. Hurra, ein besonderer Tag. Etwas Neues. Wollte es ihn ebenfalls töten? Eric spürte die Angst in sich, erinnerte sich an die Augen, sah seine eigenen im Spiegel und die kranke Müdigkeit, welche sich unmissverständlich in ihnen abzeichnete. Es wurde schlimmer. Die Schmerzen waren für ihn absolut real und er konnte nichts dagegen tun, hatte sich im Wachzustand daran gewöhnt, doch im Traum war jedes Mal das erste Mal. Er war froh, dass er nicht schrie oder sich zu sehr bewegte, während er im Bett lag. Alles blieb in seinem Inneren, kein Ruf oder Wort drang nach außen. Als wäre er in diesem Körper eingesperrt, für immer. Falls es so weiterginge, würde er irgendwann nicht mehr schlafen wollen. Bereits vor ein paar Jahren hatte Eric eine solche Phase gehabt und sich dem Schlaf insgeheim verweigert. Mühevoll war er wochenlang wach geblieben aus reiner Angst vor dem, was auf ihn wartete. Wie damals war es auch jetzt: Mit zunehmendem Schlafmangel wurde er unkonzentrierter. Ab und zu kam ihm einfach die Zeit abhanden, wenige Sekunden seines Lebens waren für immer fort und für ihn fühlten sie sich wie Minuten oder Stunden an. Nur die Konsequenzen all dessen, was er innerhalb solcher Blackouts getan haben mochte, boten eine Chance, die verlorene Wahrheit zu rekonstruieren. Oder Jacks Erklärungen. Jack war immer bei ihm … Eric blinzelte. Ohne Jack wäre er längst in großen Schwierigkeiten.

      Ein lautes Geräusch riss Eric aus seinen müden Gedanken und er erschrak so heftig, dass er das Gefühl hatte, abermals von den messerscharfen Zähnen einer schweren Kreatur durchbohrt zu werden. Sein Atem stockte, das Herz raste. Jemand hämmerte lautstark gegen die Kabinentür.

      »Ja, Mann! Was ist?«, rief Eric abwesend.

      »Aufmachen oder beeilen, wie du wollen. Aber beides schnell! Ich muss duschen, auch schnell! In Viertelstunde frühes Stück, Essen! Und Jan hat alle anderen Duschen mit ein Münze abschließen! LOS!«

      Jack, der immer leicht allergisch auf Menschen reagierte, die ihn von Broten mit Nutella und Bananen mit Honig abhielten, bearbeitete lautstark die Tür, als wollte er sie durchbrechen. Richtig, das Frühstück. Aber der Sprung im Glas des Spiegels und die damit verbundenen Bilder gingen Eric nicht mehr aus dem Kopf, wie eine Art Abkürzung in eine tote, für ihn jedes Mal tödliche Welt. Und da war das mit dem Namen.

      Als Eric sich fertig angezogen hatte, beeilte er sich in den Essraum, wie ihn hier alle nannten. Die meisten hielten »Speisesaal« für spießig und man konnte mit Recht sagen, dass die Bezeichnung nicht richtig passte. Die fünfzig Stühle waren fast alle verschieden und der lange, alte Holztisch sah aus, als hätten all die Jahre ihn auch innerlich altern lassen. Bei jeder Bewegung wie etwa dem Abstellen eines schweren Topfes krachten die Holzbalken und man musste aufpassen, dass die Tischbeine immer im Gleichgewicht blieben, sonst würde die Tischplatte seitwärts herunterfallen. Vieles war verschlissen und an der Grenze zur Neuanschaffung, doch Mia kalkulierte präzise und sparsam. Nichts war unzureichend, nichts überflüssig. Trotzdem behandelten alle die Möbel und das Gebäude an sich dankbar. Niemand wollte hier ausziehen. Wohin auch? Sie waren alle hier, weil es für sie keine unmittelbare Alternative gab. Hier ging es ihnen gut und sie waren sicher.

      Eric suchte mit geübtem Blick nach Jack. Er würde ihn gleich fragen und versuchen, es ein für alle Mal klar und deutlich aus ihm herauszubekommen, warum er gerade so einen komischen Namen gewählt hatte. Jack, Haku, Mia, die Köchin und zwei junge Mädchen waren die einzigen Asiaten im Haus. Fast alle anderen kamen aus Europa, die meisten aus Deutschland, ein Paar aus Britannien. Sie waren ein bunt gemischtes Völkchen, manche hatten sehr lange Reisen hinter sich. Wenn Jack ihm nicht sagte, wieso gerade der Name, dann würde Mia es ihm vielleicht sagen. Eric vermutete dahinter eine der Angewohnheiten, die viele Asiaten aus kulturellen oder Spirituellen Gründen an sich zu haben schienen: Sie gaben Namen, die nicht einfach gut klingen sollten, sondern fast immer auf gewisse Eigenschaften des Trägers verwiesen. Mia konnte ihm reichlich über sie erzählen. Sie wusste viel, hatte die Welt bereist und war sogar einmal in Amerika gewesen, um einen Schamanen zu besuchen, der ihr hatte zeigen sollen, wie man sein Totem oder sowas finden könne, wie die Geschichte dahinter aussah und was es bedeutete. Eric hatte nie verstanden, warum sie so viel Zeit, Geld und Mühen für eine derartige Reise verschwendete, deren Sinn letztendlich darin bestand, sich geistig in ein Tier oder Objekt zu verwandeln und so sich selbst kennenzulernen, oder sich damit zu verbinden. Oder andersherum. Mia hatte Eric damals oft erklärt, dass seine Ansicht ziemlich naiv und schlichtweg verkehrt sei, aber er hatte sich über die Vorstellung amüsiert, Mia könne sich in Gedanken in einen Terrier verwandeln und dann den Postboten verjagen. Dennoch: Manchmal fragte sich Eric, wieviel Wahrheit in den Mythen und Ideen steckte und im Geheimen faszinierte es ihn manchmal, wenn Mia oder Jack stundenlang keinen Ton von sich gaben und Meditierten, ihrer Umwelt entflohen oder sie umso genauer analysierten. Er spürte, dass er leicht dasselbe tun könnte, oft geschah es von ganz allein, doch er tat es einfach nicht bewusst oder auf Anfrage. Oft ließ Eric Dinge einfach bleiben, obwohl er sie unbedingt tun wollte. Aus welchem Grund auch immer.

      Jack hatte sich neben Haku gesetzt und die beiden sprachen leise mit einander. Es sah komisch aus, wenn Jack, der gefühlt gerade so bequem über Tischkante und Becherrand sehen konnte, sich mit dem mittlerweile deutlich größeren Haku unterhielt. Der musste sich immer in recht unangenehme Haltungen versetzen, wenn Jack mit ihm nicht laut reden wollte. Eric nahm sich einen Teller, schaufelte ihn mit Toast voll und ging zu den beiden. Als sie ihn kommen sahen, hielt Jack inne und grinste verlegen, als hätte er sich gerade über ein Geheimnis mit Haku austauschen wollen. Offensichtlich hatte er gehofft, Eric würde später kommen.

      »Setzen«, sagte Jack und rutschte ein Stück zur Seite, »wir haben gerade über Namen geredet. Du willst wissen, warum ich dich so genannt?«

      Eric ließ seinen Teller sinken und eine Toastscheibe fiel zu Boden. Jacks ungeschönte Ehrlichkeit diesbezüglich verwunderte ihn. Er hatte mit einer billigen Ausrede gerechnet aber Jack schien nicht daran interessiert, sich noch länger vor einem Geständnis zu drücken. Haku sah Eric freundlich an, nahm seinen Teller, verabschiedete sich von ihnen und setzte sich an einen anderen Platz. Die drei waren engste Freunde, doch nach all den Jahren behandelte Haku Eric noch immer mit einer Art Respekt, welche Eric fast unangenehm war. Eric nahm Hakus Platz ein und begann, sich sein Brot mit einer viel zu dicken Butterschicht zu bekleistern. Er würde abwarten, bis Jack etwas sagte und nicht so tun, als ob es ihn interessierte. Er würde den Eindruck erwecken, dass ihm der Name, der ja


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