INQUISITOR MICHAEL INSTITORIS 1 - Teil Zwei. Eberhard Weidner
Verdächtigen auf diesem Stuhl, die Sie mit Ihren Spielchen austricksen und weichklopfen können. Ich bin ebenfalls Inquisitor – schon vergessen? – und kenne dieses Geschäft fast ebenso gut wie Sie. Also rücken Sie schon heraus mit der Sprache! Wenn Sie tatsächlich etwas in der Hand haben – was ich ehrlich gesagt bezweifle –, das mich mit den Morden an unseren Kollegen in Zusammenhang bringt, dann legen Sie die Karten bitte auf den Tisch. Und was ist eigentlich mit der Ballistik. Wenn Ihnen die Untersuchungsergebnisse schon vorliegen, dann sollten Sie mittlerweile wissen, dass die Opfer nicht mit meiner Dienstwaffe erschossen wurden.«
Michael hatte Mühe, seinen Redefluss zu stoppen, da seine Erregung ihn drängte, weiterzusprechen, seine Unschuld zu beteuern und ständig darauf hinzuweisen, dass es keine Beweise für seine Schuld geben konnte, sosehr sein Gegenüber im Gegenzug darauf beharrte. Doch er zwang sich dazu, zu schweigen und dem Hauptinquisitor Gelegenheit zu geben, sich zu äußern. Währenddessen rieb er abwechselnd nervös seine Handgelenke, weil er dort auch nach dem Abnehmen der Handschellen noch wie einen Phantomschmerz ein unangenehmes Druckgefühl verspürte.
»Wie Sie wollen, Institoris«, sagte Becker, der erleichtert wirkte, dass sein Gefangener nur reden wollte, sich wieder etwas entspannt hatte und keine Aggressivität erkennen ließ. Er nahm die rechte Hand von der Griffschale seiner Dienstwaffe und verschränkte die Arme vor der Brust – möglicherweise der unbewusste Versuch, Distanz zwischen sich und dem verhafteten Inquisitor zu erzeugen und keine Spur ihres vorherigen kollegialen Verhältnisses in das Verhör einfließen zu lassen. Derartige Dinge durften in einer Situation wie dieser keine Bedeutung haben, weil die tragischen Ereignisse, die sich letzte Nacht hier zugetragen hatten, dafür gesorgt hatten, dass den drei Männern, die sich gemeinsam in diesem Raum befanden, ihre jeweiligen Rollen zugewiesen wurden. Becker räusperte sich, bevor er weitersprach, und war sich vermutlich bewusst, dass er durch das Glas des Einwegspiegels beobachtet wurde und jedes seiner Worte und jede Bewegung aufmerksam registriert und darüber hinaus aufgezeichnet und für die Nachwelt konserviert wurden. Er durfte nicht den kleinsten Fehler machen und wählte seine Worte besonders sorgfältig. »Sie wollen über Beweise reden, Institoris? Schön, lassen Sie uns über Beweise sprechen.«
Michael nickte und runzelte in Erwartung des Kommenden die Stirn, als hätte er Angst, ihm könnte etwas Wichtiges entgehen, wenn er nicht konzentriert lauschte.
»Sie haben die ballistische Untersuchung ja schon angesprochen. Lassen Sie uns also gleich damit beginnen, einverstanden?«
Erneutes Nicken und noch ausgeprägteres Stirnrunzeln.
Der Hauptinquisitor öffnete den Deckel der frisch angelegten Ermittlungsakte und blätterte durch die wenigen, bislang lose eingelegten Seiten, bis er fand, wonach er suchte. Er nahm das beidseitig bedruckte Blatt, überflog es kurz und legte es mit der Rückseite nach oben in die Mitte des Tisches, sodass Michael lesen konnte, was darauf stand.
»Sie kennen sich mit diesen Untersuchungsberichten ebenso gut aus wie ich, sodass ich Ihnen nicht erklären muss, worum es geht und worauf es ankommt. Wenn Sie die Zusammenfassung des Untersuchungsergebnisses im letzten Absatz lesen, können Sie sehen, was die Ballistiker festgestellt haben. Demnach stimmen die Kugeln, die sowohl den Inquisitor Peter König als auch den Wachmann Klaus Schreiber getötet haben, zu 98,58 Prozent mit den Projektilen der untersuchten Waffe überein.« Becker machte eine Pause – weniger um der Dramatik willen, sondern vielmehr, um die Reaktion seines Gegenübers zu beobachten, während er mit dem akkurat geschnittenen Nagel seines rechten Zeigefingers auf die Zeilen des Berichts, den er soeben zusammengefasst hatte, und dabei in erster Linie auf die dort angegebene Registriernummer der Waffe tippte.
Doch Michael achtete nicht länger auf das, was der Hauptinquisitor tat. Seine Augen flogen über die Zeilen und lasen fieberhaft das Untersuchungsergebnis der Ballistiker, das im Wesentlichen das enthielt, was Becker gesagt hatte, auch wenn die Wissenschaftler wesentlich mehr Worte und wissenschaftliche Ausdrücke gebraucht hatten, um dasselbe zu sagen. Bis sein Blick wie festgenagelt an der Registriernummer haften blieb, auf die Beckers nervtötend klickender Fingernagel hinwies.
Dem aufmerksamen Blick des Hauptinquisitors war nicht entgangen, dass Michaels hin und her huschende Pupillen zum Stillstand gekommen waren. Er nahm das Blatt und drehte es rasch um, da auf der Vorderseite in den ersten Zeilen nicht nur die Registriernummer der untersuchten Schusswaffe, sondern Hersteller, Bezeichnung und Kaliber der Pistole sowie der Name des Waffenbesitzers eingetragen waren.
Michael brauchte diese Bestätigung aus schwarzem Laserdruck auf weißem Papier nicht, um zu wissen, wem die untersuchte Pistole gehörte. Er kannte die Registriernummer auswendig, denn sie gehörte zu seiner eigenen Glock. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen, als ihn dieser neuerliche Schock mit der Wirkung eines Schlags mit einem Vorschlaghammer traf.
Er konnte es nicht glauben, aber die niederschmetternde Wahrheit lag in Form eines unwiderlegbaren Untersuchungsberichts vor ihm – auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie das möglich war. Demnach waren König und der Wachmann nachweislich mit seiner Dienstwaffe erschossen worden, obwohl er sie ständig bei sich getragen und die Männer nicht erschossen hatte. Ein Ding der Unmöglichkeit!
Michael wusste aus Erfahrung, dass die Ballistiker gewissenhaft und sorgfältig arbeiteten und in der Regel jeder Irrtum ausgeschlossen war. Aber bedeutete das nicht zwangsläufig, dass einer der Techniker im Dienst der Luziferianer stehen musste, ebenso wie der mysteriöse Janus, bei dem es sich unter Umständen um einen Inquisitor handelte? Michael schüttelte den Kopf, als ihm die Ungeheuerlichkeit seines Verdachts bewusst wurde. Bald verdächtigte er jeden anderen, mit dem Feind zu paktieren. Er musste damit aufhören, sonst wurde er hochgradig paranoid.
»Das ist … das ist unmöglich!«, rief er laut und wischte das belastende Dokument mit einer blitzschnellen Handbewegung vom Tisch, sodass es zu Boden segelte und auf den frisch geputzten Fliesen liegen blieb. »Meine Dienstwaffe kann nicht dazu benutzt worden sein, unsere eigenen Leute umzubringen, weil ich sie ständig bei mir trug. Ich erschoss damit allein drei der Luziferianer in und vor diesem Gebäude und machte den Magier unschädlich, der mir hier auflauerte.« Zum Beweis wies er auf den Krater in der Wand, den eine Kugel aus seiner Pistole verursacht hatte. »Ich hoffe, die Kugeln in den Leichen des Gestaltwandlers im Fahrstuhl, der Zauberin im Erdgeschoss und der Hexe vor dem Glaspalast sowie das Projektil, das diesen Krater verursacht hat, wurden ebenfalls untersucht, da sie im Gegensatz zu den Kugeln, mit denen König und der Wachmann ermordet wurden, tatsächlich aus meiner Dienstwaffe stammen.«
Becker seufzte und nickte. »Selbstverständlich wurden alle gefundenen Projektile untersucht. Die von Ihnen angesprochenen Kugeln stammen aber definitiv nicht aus Ihrer Dienstwaffe, sondern aus Inquisitor Königs Pistole. Es handelt sich zufälligerweise um ein baugleiches Modell, eine Glock 17, Kaliber 45. An Königs Hand wurden zudem Schmauchspuren festgestellt. Nach unserem derzeitigen Kenntnisstand gehen wir daher davon aus, dass es Inquisitor König war, der die Luziferianer erschossen hat, von denen Sie gerade sprachen, bevor er selbst getötet wurde – und zwar von Ihnen und mit Ihrer Dienstwaffe.« Becker zog ein weiteres Dokument aus der Ermittlungsakte und legte es auf den Tisch, allerdings nicht so nah vor den Gefangenen wie das erste Blatt, als befürchtete er, Michael könnte es in einem neuerlichen Wutanfall ebenfalls vom Tisch fegen. »Wenn Sie wollen, können Sie auch das schwarz auf weiß nachlesen. Es steht alles in diesem Untersuchungsbericht über Königs Dienstwaffe.«
Michael glaubte ihm auch so. Wenn Becker sagte, dass die ballistischen Untersuchungen diese Ergebnisse geliefert hatten, dann war es so. Die Frage, die sich in diesem Fall aber unweigerlich stellte, war folgende: Wie konnten die Untersuchungen der Ballistiker derartige Ergebnisse liefern? Michael schüttelte einen erneuten Anflug von Paranoia ab und konzentrierte sich auf die Fakten. Einer davon war der Umstand, dass er die Glock ständig bei sich gehabt hatte und daher niemand – am wenigsten er selbst – mit dieser Waffe auf den Inquisitor und den Wachmann geschossen haben konnte. Im Gegenteil, er hatte damit sogar mehrere Luziferianer erschossen, doch die Kugeln, die sie getötet hatten, stammten aus der gleichartigen Schusswaffe des ermordeten Leiters des Bereitschaftsdienstes. All das ließ nur eine einzige logische Schlussfolgerung zu: Die beiden Waffen waren ausgetauscht worden, ohne dass Michael es bemerkt hatte! Aber wann hätte das unbemerkt geschehen können? Er hatte seine Dienstwaffe