Die Witwe und der Wolf im Odenwald. Werner Kellner
vor dem Landgericht.
Der Boss wusste seit kurzem, dass die Kronzeugin eine Tochter geboren hatte. Deren Vater vermochte ebenso gut er wie dieser verdammte ‚Ehebrecher‘ sein, der sich so schamlos an seinem Eigentum vergriffen hatte. Ab jetzt dürstete er weniger seine Geliebte, deren Vergehen er immer noch für eine Notlüge und entschuldbar hielt, dafür aber umso strenger den Ehemann mit seiner Rache überziehen.
Er rief den Boss an, um ihm den versprochenen Bericht zu erstatten und seine Befehle entgegen zu nehmen.
Der Boss informierte ihn knapp und prägnant, dass er die Sache jetzt selbst in die Hand nehmen würde. Er hatte verstanden, dass in der kurzen Übergangsphase zwischen dem 24/7–Personenschutz-Programm, und dem Übergang in das eigentliche Kronzeugenprogramm mit neuen Identitäten, einem neuen Umfeld und Wohnort, die Zeugin relativ ungeschützt war. Diese Zeitspanne wollte der Boss jetzt nutzen, um die Kronzeugin zwar spät, aber noch immer rechtzeitig und endgültig aus dem Verfahren zu entfernen, um damit der Staatsanwaltschaft die Basis für die Verurteilung zu entziehen. Jedem war klar, dass ohne ihre Aussage, die Anklage auf extrem wackligen Beinen stand.
Er forderte diesmal mit Nachdruck, einschließlich der Androhung von Konsequenzen an seine Führungsmannschaft vor Ort, die aktuellen Koordinaten ihres Wohnortes an. Er ließ verlauten, dass er die Kronzeugin und deren Tochter jetzt und sofort, das hieß noch vor dem Urteil, zu entführen und nach Russland zu bringen gedachte.
Dann würde er sich mit seinen Rachefantasien um den Personenschützer kümmern, der ihm das alles eingebrockt hatte, und ihn fertig machen.
Damit wäre ein Schlussstrich unter dieses unerfreuliche Verfahren gezogen, und die einträglichen Geschäfte und vor allem der künftige Umbau der Organisation in einen quasi-legalen Wirtschaftsbereich konnten ungestört weiter vorangetrieben werden.
Der Verteidiger glaubte an dieser Stelle dem Boss dieses zahnlose Vorgehen einer Verräterin gegenüber nicht. Er sah die Todesstrafe für sie als Konsequenz der brutalen Regeln der ‚Gesellschaft‘ schon als verhängt an. Der Boss würde die Zeugin zur Strafe so lange benutzen, bis er ihrer endgültig überdrüssig war. Nach den ungeschriebenen Regeln dieser ‚Gesellschaft‘ gehörte sie ihm bis an ihr Lebensende, und ihr Leben lag in seiner Macht.
Außer ihr verzeihen, das gaben die Regeln der Bratwa nicht her. Und das Verhalten ihres Anführers beobachteten die Mitglieder dieses Unterweltsyndikats sehr sorgfältig.
Dem Verteidiger war in diesem Moment nur wichtig, dass dieser Entführungsauftrag nicht bei ihm landete, denn er wollte nicht noch mehr Minuspunkte beim Boss sammeln. Disziplin war das A und O in der ‚Gesellschaft‘. Und das war dem Boss wichtiger als die Höhe des Profits, wenn man von Ausnahmen absah.
Danach drehte sich das Telefongespräch hauptsächlich um seine Rolle als Syndikus, konkret um den Abschluss der Markteinführung von Opioiden in der rezeptfreien Anwendung sowie der Gründung einer Stiftung zur Verwaltung von Immobilien und der Vermögenssicherung für die Unternehmensnachfolge. Als Wirtschaftsanwalt hatte der Syndikus gemeinsam mit dem Statthalter die notwendigen legalen Strukturen aufgebaut.
Es hatte harter Überzeugungsarbeit bedurft, um das risikoreiche und gewalttätige Drogengeschäft in ein quasi-legales Geschäftsmodell umzubauen. Allerdings war die ‘Gesellschaft’ immer noch dabei, die Vermarktung, um weitere Kundensegmente zu erweitern, um sich auf dem entwickelnden europäischen Opioid Markt eine Monopolstellung zu sichern. Mithilfe der Opioide für den rezeptpflichtigen und den rezeptfreien Schmerzmittelsektor sollte Europa massiv überflutet werden.
Der Boss, dessen Erfahrung aus den Anfängen des Unterweltsyndikats stammten, war „Mafia“ Old School und weder vertraut mit pharmazeutischen Absatzmärkten noch mit Online Marketing, dafür sicherte er das bestehende Drogennetz mit einem perfekt arbeitenden Sicherheitsdienst ab, der alles, was sich dem Netzwerk in den Weg stellte, brutal und gezielt beseitigte.
Die größte Sorge des Bosses war deshalb nicht, dass seine Geliebte, die er sowieso schon abgeschrieben hatte, ein paar der führenden Köpfe der lokalen Szene für ein paar Jährchen hinter Gitter bringen würde. Das würden die auf einer Arschbacke absitzen. Hingegen musste der Betrieb seines Geschäftsmodells leise und unauffällig weiterlaufen. Er akzeptierte kein zusätzliches Risiko mehr.
Der Mann hinter dem Lenkrad seines S-Klasse-Wagens atmete tief durch. Er war erleichtert, dass der Versuch die Kronzeugin zu beseitigen, der in all den Jahren des Prozesses gegen die Frankfurter Zelle des russischen Drogenkartells kläglich gescheitert war, kurz vor Prozessende wieder Fahrt aufnahm.
Er akzeptiert, dass der Boss damit drohenden Schaden von der ‘Gesellschaft’ abwenden wollte. Diese Organisation, in die er hineingeboren worden war, hatte ihn zur Ausbildung und Studium nach Deutschland geschickt und langsam aufgebaut. Er war dankbar und loyal über seine Karriere und die erreichte Position in der ‚Bratwa‘. Künftig würde er auch in der Stiftung eine wichtige Rolle spielen, die er sich mühsam erkämpft hatte.
Er war der Kontaktmann zum Maulwurf und hatte genug Druck auf ihren Mann in der Justiz ausgeübt, damit er diesmal die richtigen Koordinaten rechtzeitig herausrückte. Nach dem Empfang einer kurzen SMS, die er an den Boss weiterleiten musste, würde der ‚Wolf‘ seinen Job abschließen. Keine Zeugin, kein Urteil.
Das war das Ziel.
Auf dem Weg zurück ins Büro kündigte der kurze Piepton seines Handys den Eingang der erwarteten SMS des Maulwurfs an, die er direkt weiterleitete. Minuten später erhielt er die Bestätigungsantwort vom Boss. Aktion ‚Rückführung‘ war angelaufen.
Kapitel 4
Morde im Namen der "Ehre" sind weit verbreitet in Afghanistan. Die eigenen Verwandten werfen vergewaltigten Mädchen und Frauen vor, Schande über die Familie gebracht zu haben - so werden sie von Opfern zu Täterinnen gebrandmarkt. Dabei gilt auch einvernehmlicher Geschlechtsverkehr der unverheirateten Frau mit einem Mann als Vergewaltigung.
Wiesbaden, Donnerstag 15.10.2009, 19:00 Uhr
Die eindrucksvollen braunen Augen und der Dreitagebart des sportlichen jungen Mannes, ließen die Schmetterlinge im Bauch der Kronzeugenbeauftragten flattern wie jedes Mal, wenn sie ihn traf. Auch dieses Mal fühlte sie, wie ihre Knie weich wurden. Am liebsten wäre sie selbst mit ihm ins Kronzeugenprogramm geflüchtet, aber der Zug war abgefahren. Sie blieb cool und ließ sich, so gut sie es vermochte, nichts anmerken und wickelte die Dokumentenübergabe für sein neues Leben so kühl wie möglich ab.
Der junge Mann, dem eine gewisse Leichtigkeit im Leben, insbesondere dem weiblichen Geschlecht gegenüber, nicht fremd war, empfing sehr wohl die Signale der niedlichen Kronzeugenbeauftragten, die sich jetzt schon jahrelang um die Zeugin und ihre Tochter gekümmert hatte. Er war ehrlich genug sich einzugestehen, dass ein Versprechen trotzdem ein Versprechen war und dass Treue mindestens genauso wichtig war wie sexuelle Freiheit, und weil er dasselbe von seiner Partnerin erwartete, zwang er sich, aufkeimende Triebe jeder Art zu unterdrücken. Außerdem rüttelte ihn sein Gewissen seit seinem letzten Bruch eines Treueversprechens gegenüber seiner Sandkastenliebe ständig wach, sich ordentlich zu verhalten. Obwohl diese letzte gebrochene Versprechen gar kein richtiges Versprechen war. Nach seinem Empfinden war es eine mehr als angenehme Gewohnheit.
Als frischgebackener Ehemann kümmerte er sich liebevoll und vorrangig um die Sicherheit seiner kleinen Familie. Mit einem entschuldigenden Blick grinste er die Versuchung weg und nahm genauso cool, wie sie sich gab, die Dokumente und das Briefing entgegen. Er drückte sie zum Abschied ohne den erwarteten Kuss auf die Wange. Er würde sie in diesem Leben nicht mehr wiedersehen.
Wegen seiner schlaksigen und manchmal unbeholfenen Art wurde er leicht unterschätzt. Aber er konnte, wenn er wollte, seine Ziele sehr hartnäckig verfolgen. Als geborener Optimist gab es für ihn nichts Unmögliches. Das wiederum hatte ihm die ganze Mühsal ihrer ständigen Flucht zu ertragen geholfen, denn er sah immer das Licht am Ende des Tunnels. Hier und heute sah er das strahlende Licht des Tunnelendes vor sich und den Anfang einer lebenswerten