Die Witwe und der Wolf im Odenwald. Werner Kellner
abzuschütteln.
Er gab sich keiner Illusion hin, dass dies ein Prozess war, der Jahre dauern konnte, aber Geduld war nicht nur eine leere Worthülse für ihn. Er lebte danach.
Der Übergabetermin war wie eine geheime Staatsaktion abgelaufen, um nur ja keine Spur zu hinterlassen. Er hatte auch darauf bestanden, den ursprünglichen Termin um zwei Wochen vorzuziehen, damit nicht durch eine Leckstelle, die er seit längerem bei der Staatsanwaltschaft vermutete, das Programm scheitern könnte. Es gab zu viele Vorfälle in der Vergangenheit, seine Frau aus dem Verfahren zu entfernen, die glücklicherweise alle gescheitert waren.
Das kleine Mädchen mit den samtschwarzen Locken und den großen, wasserblauen Augen, das seiner Mutter bis auf die Augenfarbe so sehr ähnelte, saß die ganze Zeit, während er beschäftigt war, auf der Besucher Couch und spielte mit einer Puppe. Er verließ das Haus mit dem Kind auf dem Arm direkt über die Tiefgarage und lief, den Kopf gesenkt, zu seinem, auf dem Besucherparkplatz abgestellten Minivan, packte die Kleine in den Kindersitz und klemmte sich hinter das Lenkrad.
Bevor er auf die A3 in Richtung Wiesbaden einbog, sah er im Rückspiegel, dass die Kleine immer noch mit der Puppe beschäftigt war, atmete tief durch und schloss die Augen.
Die letzten Monate waren alles andere als stressfrei, wenn er an die Vielzahl der Hürden dachte, die es bis zur Entgegennahme der Papiere vor fünfzehn Minuten zu überwinden galt. Obwohl alles akribisch dazu vorbereitet war, fühlte er sich immer noch wie ein Fallschirmspringer, der vor der offenen Flugzeugluke stand und vor einem nächtlichen Absprung über unbekanntem Terrain ins Dunkle starrte.
Nein, widersprach er sich selbst, er wollte in eine sonnendurchflutete Zukunft springen, und die dunklen Schatten hinter sich lassen.
Er hatte unter dem Zeugenschutzprogramm, welches das hessische Landeskriminalamt für ihn organisiert hatte, gemeinsam mit den beiden eine neue Identität mit erfundenem Lebenslauf erhalten.
Für ihren künftigen Lebensmittelpunkt empfahl sich Hamburg. Einen Arbeitsvertrag als Angestellter eines bekannten Haftpflichtversicherers hatte er unterschrieben. Für seine Frau, die mit einem Informatikstudium glänzte, welches sie an einer russischen Hochschule erworben hatte, wäre es ein leichtes, an ihrem neuen Wohnort einen Job zu finden. Er strahlte beim Gedanken an seine Frau, die sich so unvorhersehbar nach der gewaltsamen Festnahme und Verletzung in seine Fürsorge und mehr begeben hatte.
Sie hatte spontan seine Liebe erwidert, obwohl es für beide echt schwierig war, sich wegen ihrer gegenseitigen Sprachdefizite zu unterhalten.
Eine Liebe, die keine Worte brauchte, war bei beiden so rasch aufgeblüht, dass er selbst nicht verstand, was da ablief. Er löste seine Verlobung mit seiner ewigen Sandkastenfreundin und wollte sich nicht eingestehen, dass er ziemlich unfair ihr gegenüber war.
Kurze Zeit, nachdem die Zeugin aus dem Krankenhaus entlassen worden war, in dem sie mit ihrer schweren Schussverletzung behandelt worden war, heirateten die beiden. Bei der Geburt ihrer Tochter durfte er dabei sein, und seine neue Verantwortung für seine kleine Familie verschaffte ihm ein starkes Glücksgefühl. Die Tochter war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Von da an durfte er sich um zwei schöne Frauen kümmern, die ab sofort sein Leben bestimmen würden, wie er es scherzend nannte.
Aber es sollte alles anders kommen.
Als er kurz nach 14:00 Uhr die sichere Wohnung in Wiesbaden verlassen hatte, wollte er für maximal zwei Stunden wegbleiben, um mit Emina seine Dokumente vom Amt abzuholen. Ursprünglich sollten sie zu dritt die Unterlagen abholen, aber seiner Frau ging es die letzten Tage nicht so gut.
Die komplette Lebensumstellung, ein diffuses Heimweh nach ihrem fernen Zuhause und die Gewissheit, ihre Familie in Afghanistan nie mehr zu sehen, hatten ihr offensichtlich schwerer zugesetzt, als er dachte. Sie hatte während des ganzen Prozesses nur sehr zurückhaltend mit der Staatsanwaltschaft kooperiert und keine Details über ihre Familie und die eigentliche Führungsmannschaft der ‚Bratwa‘ kundgetan. All das hatte sie nur getan, um zu überleben.
Sie war so bedrückt, wie er sie lange nicht gesehen hatte, und er fühlte sehr wohl, dass sie ihm irgendetwas verheimlichte. Etwas, womit sie versuchte, alleine klar zu kommen. Und er wollte nicht zu sehr in sie dringen in dieser Zeit so kurz vor der neuen Identität und Zukunft. Es musste sich um etwas tief in ihrem Inneren verborgenes und weit zurückliegendes handeln, vielleicht sogar aus ihrer Jugendzeit, von der er so gut wie gar nichts wusste. Andererseits hatte sie zu niemandem Kontakt, sie verließ kaum mehr die Wohnung und wenn sie telefoniert hätte, wüsste er das.
Und hier irrte der Personenschützer.
Von der Befürchtung, dass ihr patriarchalischer, afghanischer Vater auch hinter ihr her war, um die Schande zu tilgen, die sie über die Familie gebracht hatte, erzählte sie ihrem Ehemann nichts. Dass der junge Mann, den sie beim Staatsanwalt getroffen hatte, ihr Bruder war, erzählte sie ihm auch nicht. Sie erklärte das Treffen damit, dass der Staatsanwalt einen Dolmetscher für ein unsittliches Angebot an sie engagiert hatte, das sie aber abgelehnt hatte. Sie redete sich ein, dass sie ihn damit nicht beunruhigen wollte.
Um sie zu schonen, hatte er deshalb auch nur ihre fünfjährige Tochter auf den Behördengang mitgenommen, um die Dokumente persönlich zu übernehmen. Der gesamte Prozess auf dem Amt hatte dann, wegen eines unvorhergesehenen Staus auf der Friedberger Landstraße sowie der strengen Geheimhaltungsanforderungen deutlich länger gedauert als geplant.
Es war schon so gegen 19:30 Uhr, als er den Minivan zurück in die Tiefgarage der Wiesbadener Wohnanlage steuerte.
Er hatte mit seiner Frau besprochen, dass sie unmittelbar nach seiner Rückkehr ihr Gepäck ins Fahrzeug laden würden, um direkt loszufahren. Er wollte kein Risiko eingehen. Mit neuem Namen, neuen Papieren und einem Konto mit einem Grundstock, das sie in dieses neue Leben starten ließ. All die Tage zuvor hatte er versucht, sie aufzuheitern, was nicht so recht gelingen wollte. Wenn sie schwermütig war, wollte sie in Ruhe gelassen werden. Aber das war so schwer.
Als Erstes fiel ihm der dunkle Van am Eingang der Tiefgarage auf, den er hier noch nie gesehen hatte, und der ein Kennzeichen des Odenwaldkreises trug. Sein Misstrauen war geweckt, und er schwankte einen Moment, was er mit seiner auf dem Rücksitz eingekuschelten Tochter tun sollte.
Sie war auf der Rückbank eingeschlafen, und so ließ er sie wie üblich im Auto, wenn er nach Hause kam, um als Erstes zu prüfen, ob der Weg in die Wohnung sicher wäre. Schon beim Betreten des Apartments beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Alles war dunkel und niemand reagierte auf sein, „hallo Schatz, wir sind wieder zurück”, als er sich in Richtung Schlafzimmer bewegte, in der Annahme, dass seine Frau sich hingelegt hatte. Das Zimmer war ebenfalls dunkel. Er fand sie im Schlafzimmer im Bett seltsam ausgestreckt unter der Decke und in völlig ungewohnter Weise auf seiner Bettseite liegend vor. Ihr Gesicht war ihm abgewandt und sie blickte auf ihre Bettseite.
Er schüttelte sie zärtlich, aber sie reagierte immer noch nicht und fühlte sich kalt und steif an. Er knipste die Nachttischlampe an und konnte keinen Puls fühlen. Dafür sah er ein Einmal-Injektionsbesteck auf dem Nachttisch, und als er die Decke zurückschlug, sah er den abgebundenen Arm und die Einstichstelle in der Armbeuge.
Sie war tot und in der Wohnung war es totenstill.
Er betrachtete sie lange und eine unsagbare Trauer ergriff ihn. Ihr wunderschönes Gesicht war entstellt von dem starr geöffneten Mund, ihren schreckhaft geweiteten Augen und die Pupillen groß und schwarz starrten durch seinen Blick hindurch ins Leere. Als er versuchte, den Kopf zu sich drehen, merkte er, dass die Totenstarre schon eingesetzt hatte.
Es dauerte eine Weile bis er bemerkte, dass ihre Halskette abgerissen war und der Anhänger fehlte. Aus den Kratzspuren am Hals schloss er, dass ihr das russische Kreuz mit Gewalt entrissen worden war. Beim genaueren Hinsehen sah er minimal ausgeprägte Druckspuren eines Daumenpaares an ihrem Hals. Der Mörder musste den Anhänger mitgenommen haben, denn dass es sich um keinen Selbstmord handelte, war ihm als Ex-Ermittler der Polizei sofort klar.
Die Totenstarre hatte bis auf die äußeren Extremitäten fast vollständig eingesetzt, was bei der herrschenden Raumtemperatur auf einen frühesten Todeszeitpunkt