Die Witwe und der Wolf im Odenwald. Werner Kellner
erschienen sein. Vermutlich hatte der sogar gewartet, bis er ging, weil er wusste, was er vorhatte. Und wenn er wegen des Unwohlseins seiner Frau nicht seine Tochter ins Büro der Staatsanwaltschaft zur Dokumentenübergabe mitgenommen hätte, dann wäre sie jetzt auch tot.
Es tat ihm so weh, dass er seine Frau untersuchen musste, wo er ihr am liebsten nur die Augen geschlossen hätte, um zu trauern. Er fühlte den Schmerz über den Verlust fast körperlich und nicht nur das. Die Angst vor dem langen Arm der Mafia kam dazu. Diese Angst war verbunden mit dem Drang seine Tochter zu retten und vor einer permanenten Bedrohung zu fliehen, die nicht enden wollte. Der Zwiespalt, sich entscheiden zu müssen, zwischen der sofortigen Flucht und der Notwendigkeit kühl zu bleiben und die Situation zu analysieren, zerriss ihn fast. Als Ex-Polizist war er es gewohnt, Tatorte zu untersuchen, und sein Schlafzimmer war ein Tatort, da gab es keine Zweifel. Er erstarrte, als er die Decke vollständig zurückschlug und die Vergewaltigungsspuren sah. Er zwang sich dazu, mehrere Fotos von seiner toten Frau auf dem Bett zu schießen und die Tat zu dokumentieren.
Der Hinweis mit dem fehlenden Anhänger und die offensichtliche Vergewaltigung war ein zu eindeutiges Zeichen eines Auftragsmörders der Mafia. Von jemandem, dessen Ehre so tief verletzt war, dass er einen Mordauftrag der schlimmsten Art befahl. Dabei wurden absichtlich keine Spuren verwischt, um einen Rachemord an einer Verräterin zu demonstrieren.
Der Auftrag war eindeutig, um seiner Frau den Status einer ‚Wory‘ abzuerkennen, den sie sowieso abgelegt hatte. Und der Mörder war noch nicht fertig, warum hätte er sonst das Familien-Foto vom Nachttisch mitgehen lassen. Das Familienfoto, das sein Töchterchen auf dem Schoß der Mutter und ihn dahinter stehend zeigte, und das eingerahmt am Nachttisch stand, war verschwunden.
Er musste ausschließen, dass der Täter noch in der Wohnung war, und durchsuchte sie sorgfältig. Die Glock entsichert, schlich er von Zimmer zu Zimmer.
Fehlanzeige. Es fanden sich keinerlei Spuren eines Kampfes oder der Anwesenheit eines Fremden.
Dann fiel ihm siedend heiß der Van mit den abgedunkelten Scheiben und dem Kfz-Kennzeichen des Odenwaldkreises ein, der an der Ausfahrt der Tiefgarage parkte, und den er hier noch nie gesehen hatte.
Verstört lief er in die Garage, um nach seiner Tochter zu schauen. Der Van stand noch immer an der Ausfahrt, und er meinte auf der Fahrerseite einen Schatten zu sehen. Die Glock mit Schalldämpfer im Anschlag schlich er von hinten an den Van und versuchte, außerhalb des Sichtwinkels der Rückspiegel zu bleiben.
Er war nur noch wenige Meter vom Heck des Wagens entfernt, als der Motor aufheulte, und der Van mit quietschenden Reifen und ohne die Scheinwerfer einzuschalten, die Ausfahrt hoch raste. Ohne groß zu überlegen, schoss er eine Serie durch die Heckscheibe, die zersplitterte, aber die Schüsse brachten den Wagen nicht zum Stehen. Der schwere Wagen schlingerte leicht und verschwand um die Ecke.
Er speicherte das Kennzeichen ab und lief zu seinem Minivan, in dem die fest schlafende Tochter lag. Er nahm sie vorsichtig aus dem Auto, brachte sie direkt ins Kinderzimmer und machte ihr etwas zu essen. Als er das Zimmer verließ, war sie schon eingeschlafen. Er war hellwach und in einem Zustand der Hypersensibilität.
Er setzte sich vor seinen Laptop und scannte die Videos, welche die Kamera mit Bewegungsmelder in der Tiefgarage aufgezeichnet hatte. Im fraglichen Zeitraum ab 14:00 Uhr bis jetzt sah er einige bekannte Gesichter von Nachbarn, die er nur vom Sehen kannte, kommen und gehen und nur eine Handvoll Personen waren unbekannt. Auf zwei junge Kerle mit Hoody und schlecht erkennbaren Gesichtszügen folgte ein eng umschlungenes Pärchen, aber beide Gesichter waren abgewandt und nicht zu erkennen. Ein paar Teenager trabten an der Kamera vorbei, die mit einem Fußball unterwegs waren, und dann kam ein Jogginganzug-Träger mit Kapuze, der zu einem schlecht auszumachenden jungen Mann mit dunklem Teint und ein paar dunklen Locken gehörte. Dann entstand eine längere Pause, bis eine junge Frau mit einem Kinderwagen durch das Bild rollte. Darauf folgte ein Anzugträger mit Krawatte, der Figur nach ein Bodybuilder mit Kinnbart und einem Tattoo am Hals. Zum Schluss sah er noch einen Jogginganzug-Träger mit Kapuze und bis zur Nase hochgezogenem Kragen, der wieder umdrehte, weil er etwas in seinem Auto vergessen hatte. Er konnte niemanden identifizieren, sicherte die Datei und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Der Typ mit den Tätowierungen passte zu seiner Vorstellung eines Auftragsmörders, aber da er ihn nicht kannte, nützte ihm die Erkenntnis wenig.
Das Loch, das sich jetzt vor ihm auftat, es hätte schwärzer nicht sein können. Alles, was er so mühsam vorbereitet hatte, war mit einem Schlag wie weggewischt.
Dumpf vor sich hinbrütend saß er eine Stunde lang auf der Couch und versuchte den Zorn, der in ihm hochkochte, zu unterdrücken. Um 20:30 Uhr hatte er sich zu einem Entschluss durchgerungen.
Zuerst müsste die Leiche verschwinden, um die Auftraggeber des Auftragsmordes zu irritieren, und danach würde er eine Vermisstenmeldung an die Polizei abgeben und sich mit Emina endgültig absetzen. Danach würde er weitersehen, wieweit eine Zusammenarbeit mit den Ermittlern noch zweckmäßig und sinnvoll war. Der Prozess war erstmal geplatzt, und er und Emina waren als Zeugen eine Fehlanzeige. Er würde die neuen Identitäten dennoch benutzen, aber anders als vom Programm vorhergeplant.
Er rief mit heiserer Stimme seinen Vater an, den er getreu seinem Auftrag aus dem Zeugenschutz bisher vollkommen aus der Sache herausgehalten hatte, und fragte ihn, ob er Alina würdig aber ohne Aufsehen und am besten klammheimlich begraben könnte. Er sagte weder, was passiert war, noch gab er Einzelheiten preis, nur so viel, dass er seine Frau verschwinden lassen und ihren Tod verheimlichen wollte.
Was für eine Frage an den eigenen Vater, noch dazu wenn es um die Ehefrau ging, die er nur so kurz lieben gelernt hatte, und wegen der sein Leben jetzt kopfstand. Er war ziemlich sicher, dass er das Zeugenschutzprogramm für seine Tochter und sich selbst angesichts der Umstände vergessen könnte. Sie waren, was ihre Sicherheit anbelangte, ab jetzt auf sich allein gestellt. Immerhin hatten sie alles, was zum Aufbau einer neuen Identität notwendig war.
Es war unglaublich, und so hatte er ihn noch nie erlebt, wie einfühlsam sein Vater mit dem Thema umging. Der junge Mann hatte in seiner Bemühung, den Tod seiner Frau zu vertuschen, seine Mutter komplett außer Acht gelassen. Dass sie heute nicht zu Hause war, wusste er vorher nicht, aber es half ihm, seine geplante Aktion mit seinem Vater ohne große Aufregung durchzuziehen.
Und obwohl sein Vater vermutlich ahnte, worum es ging, fragte er nicht groß nach, und so wie es sein erster Gedanke war, hielt auch sein Vater den Ruheforst im südlichen Odenwald für den bestmöglichen Begräbnisort. Er musste es einfach riskieren, sie noch heute nach Erbach ins Beerdigungsinstitut seines Vaters zu bringen, wenn er den Zug morgen früh erreichen wollte.
Seine Tochter schlief immer noch tief und fest. Er trug zuerst seine auch im Tod noch so wunderschöne junge Frau in die Tiefgarage, setzte sie auf den Beifahrersitz und schnallte sie fest. Dann holte er die Kleine, die nicht wach wurde, als er sie auf dem Rücksitz zum Weiterschlafen hinlegte.
Fünfzig Minuten später fuhr er bei seinem Vater in den Hof, und gemeinsam brachten sie die Tote in den Vorbereitungsraum, legten Sie in einen Sarg, den sein Vater bereits für eine Feuerbestattung vorbereitet hatte. Morgen würde er sie, ausgestattet mit einem Totenschein seines Hausarztes, verbrennen lassen. Beim Begräbnis könnte er natürlich nicht dabei sein, aber klammheimlicher ging es einfach nicht.
Kurz nach Mitternacht, wieder zurück in Wiesbaden, begann er wahllos Klamotten zusammenzusuchen, seinen Laptop, seine Fotoausrüstung, aber auf jeden Fall nichts, was ihn sonst noch in der neu gewählten Wirklichkeit an die Vergangenheit erinnern könnte. Er stopfte alles in einen großen Koffer und bestellte das Taxi für 04:45 Uhr. Nach zwei Stunden Schlaf stand er mit einer schlaftrunkenen Fünfjährigen im Arm am Straßenrand, um auf das Taxi zu warten.
Im Taxi begann sie zu weinen, weil ihre Mama nicht da war, und er ihr keinen Trost spenden konnte und keine Erklärung, warum sie ohne Mama fortlaufen mussten.
Er schluckte schwer, denn die Fragen würden nicht aufhören und er wollte und konnte seiner kleinen Tochter nicht die Wahrheit erzählen.
Nicht jetzt und vermutlich noch lange nicht.
Im Auto schickte er eine