Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella

Die Brücken zur Freiheit - 1864 - Christine M. Brella


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Überrascht stellte Annie fest, dass sie diesen nachtschwarzen Hengst mit dem kleinen weißen Stern auf der Stirn noch nicht kannte. Nervös tänzelte er hin und her und legte die Ohren zurück, als sie behutsam nähertrat. Sofort war das Mädchen hellwach.

       »Darf ich vorstellen: Midnight Madness. Der Sohn von Midnight Maiden und Pitch Black Darkness. Du hast bestimmt vom Zuchthengst der Howlands gehört?«

       Annie nickte atemlos. Pitch Black war eine Legende. Er hatte in fast jedem Rennen, in dem er antrat, eine Medaille geholt. Eine Stute von ihm decken zu lassen, kostete ein Vermögen und die Howlands waren wählerisch, wem sie ihre Gunst gewährten.

       »Madness wird im Juni vier Jahre alt. Einer leichten Reiterin wie dir sollte es bald möglich sein, mit dem Zureiten zu beginnen«, stellte ihr Vater betont beiläufig fest. In seinen Augen jedoch tanzte der Schalk.

       Annies Herz schlug schneller. Mit so einem Tier konnte sie beweisen, dass sie mit edlen Rennpferden umzugehen wusste. Es konnte der Beginn einer neuen Zuchtlinie werden und ihr den Respekt der anderen Züchter einbringen. Wollte ihr Vater das mit dem wertvollen Geschenk ausdrücken? Dass er ihr, was Pferde betraf, vertraute? Dass er bereit war, die Zukunft des Gestüts in ihre Hände zu legen, wenn sie Erfolge bei der Ausbildung des Hengstes vorweisen konnte? Ihre Beine fühlten sich wacklig an. Annie schluckte die Tränen hinunter, bevor sie sich Bahn brechen konnten.

       »Du sagst ja gar nichts. Gefällt er dir nicht?«, fragte ihr Vater.

       Annie schniefte geräuschvoll. »Er ist wunderschön! Natürlich entscheide ich mich für ihn!«

       Ihr Blick verschleierte sich. Noch nie hatte sie so tiefe Dankbarkeit und Liebe empfunden. Ihrem Vater gegenüber, aber auch gegenüber dem großen, ungezähmten Satan in der Box. Bevor sie sich versah, schloss ihr Vater sie in die Arme.

       »Weine nicht, meine Große! Ihr beide passt perfekt zusammen! Ich weiß es!« Kaum hörbar fügte er hinzu: »Deine Mutter hätte es so gewollt. Ich wünschte, sie wäre jetzt hier.«

       Für den restlichen Vormittag war Annie nicht mehr aus dem Stall zu locken. Noch wagte sie nicht, die Tür zu Midnight Madness’ Verschlag zu öffnen. Stattdessen lehnte sie sich an die Wand daneben und sang ihm mit schiefer Stimme Kirchenlieder vor, damit er sich an ihre Gegenwart und ihren Klang gewöhnte. Als sie anfing, Gedichte zu rezitieren, stellte er seine Ohren auf. Statt dem angsterfüllten Weiß der Augen zeigte er einen neugierigen, intelligenten Blick. Schließlich schnupperte er an dem Apfel, den Annie ihm auf der flachen Hand anbot. Offensichtlich war Madness ihr Geruch nicht völlig zuwider. Er senkte mit einem erleichterten Seufzer sein weiches Maul herab und schnappte sich den Leckerbissen. Der Hengst wirkte so zufrieden, dass Annie kichern musste. Sofort stoppte die Kaubewegung. Madness’ Ohren bewegten sich in alle Richtungen.

       »Ist schon gut, Nessi!«

       Annie begann wieder leise zu singen. Sie nahm den Moment mit geschlossenen Augen in ihrem Herzen auf. Die Wärme; die Ruhe; der süßliche Geruch nach Pferd. Ja, so sollte es sein. Hier war ihr Platz und würde es immer sein. Heute beim Abendessen würde sie endlich mit ihrem Vater und Theresa darüber sprechen.

      Annie legte als Erste Gabel und Messer zur Seite. Vor Aufregung war ihre Kehle wie zugeschnürt.

       Die Füllung aus Brot, Kräutern und getrockneten Trauben quoll aus dem Truthahn, der zur Hälfte aufgegessen auf der Tafel stand. Auch vom Maisbrei war noch eine halbe Schüssel übrig, genau wie von den Bohnen und den gegrillten Kürbiswürfeln. Am Tisch herrschte Schweigen; zumindest beinahe. Seit Christopher zur Tür hereingekommen war, plapperte er vor sich hin. Weder der abwesende Gesichtsausdruck seines Vaters noch das Missfallen Theresas, die noch steifer als sonst dasaß und eine Schnute machte, störten ihn. Hoffentlich vergaß er nicht ihre Abmachung.

       »Und dann hat sich Annika hinter mich aufs Pferd gesetzt und wir sind sooo schnell über den Schnee galoppiert.«

       Scheibenhonig.

       Theresa schnappte zischend nach Luft. »Das geht nun wahrlich zu weit! Bartholomew, ich habe geschwiegen, als du unserem kleinen Sohn dieses Monster geschenkt hast. Auch Reitstunden habe ich zugestimmt. Immerhin ist er dein Erbe. Ich erkenne das an. Aber dass du ihn diesem Mädchen anvertraust und sie durch die Gegend galoppieren – das ist zu viel. Es hätte weiß Gott was passieren können! Er hätte …«

       Colonel Bailey hob abwehrend die Hand. »Ich verlasse mich auf Annika, was Pferde anbelangt, zu einhundert Prozent. Wenn du unseren Sohn während meiner Abwesenheit nicht so verhätschelt hättest, wäre er schon ein passabler Reiter! Das holen wir jetzt nach.«

       Wütend zerknäulte Theresa die Serviette auf ihrem Schoß und starrte ihren Ehemann mit versteinertem Gesichtsausdruck an. Der schob sich ein Stück Truthahn in den Mund. Selbst Christopher war verstummt. Sein Blick wanderte zwischen seinen Eltern hin und her.

       Annie musste eine Entscheidung treffen. Ihr Vater stellte sich selten gegen seine zweite Ehefrau und noch seltener tat er das zugunsten seiner Tochter. Diese Gelegenheit musste sie nutzen! Darauf, dass ihre Stiefmutter ihr jemals Wohlwollen und Respekt entgegenbringen würde, konnte sie noch hundert Jahre warten! Eher würden die Menschen fliegen lernen.

       War es am Ende wirklich so entscheidend, dass sie nicht als Mann geboren war? Annie hatte die Fähigkeiten und den Ehrgeiz, die Zucht so fortzuführen, wie diese es verdient hatte! Christopher war kein Pferdemensch. Er würde seiner großen Schwester dankbar sein, wenn sie die Verantwortung übernahm.

       »Vater, mit deinem Einverständnis würde ich gerne nach der Schule für immer hier auf der Ranch bleiben. Ich bin mir sicher, gemeinsam können wir großartige Zucht- und Trainingserfolge erzielen! Meine Expertise wird für die Zucht von entscheidendem Nutzen sein.«

       Colonel Bailey ließ die Gabel sinken. »Wie meist du das?«, fragte er tonlos.

       Annie setzte ihre Rede fort und wurde dabei immer schneller. So lange hatte sie auf diesen Augenblick hingefiebert!

       »Mit Pferden kenne ich mich bereits hervorragend aus. Da hatte ich den besten Lehrmeister. Daneben beschäftige ich mich im Unterricht mit Buchführung, Vererbungslehre und Algebra, aber auch Allgemeinrecht und …«

       »Was tust du?«, unterbrach Theresa sie schrill.

       Noch mal Scheibenhonig. Davon hatte Annie eigentlich nichts verraten wollen.

       »Ich lerne all die Dinge, die ich später als Züchterin einmal brauchen werde!«, verteidigte sie sich.

       »Das … das … gebührt sich nicht für eine junge Dame!« Theresa schnappte nach Luft.

       Christopher nutzte die Atempause, rutschte von seinem Stuhl und rannte aus dem Speisesaal. Keiner der Erwachsenen beachtete seinen Abgang.

       »Wie willst du denn einen Ehemann finden, wenn dein Kopf durch derart garstige Dinge verwirrt ist? Eine meiner Großtanten hat sich auch so gehen lassen. Hat sich nicht um ihr Aussehen gekümmert, sondern nur um ihre Kaninchenzucht. Keinen einzigen Heiratsantrag hat sie bekommen und war zeitlebens auf die Barmherzigkeit ihrer Verwandtschaft angewiesen. Willst du etwa auch so enden?«

       Annie fuhr auf. »Ich werde euch schon nicht auf der Tasche liegen! Wenn ihr mich hierbleiben lasst, verdiene ich meinen Unterhalt zigmal zurück!«

       »Jetzt will sie auch noch Geld verdienen. Eine Lady sollte nicht einmal über Geld sprechen! Bartholomew, sprich du mit deiner Tochter! Immerhin hast du ihr diese Allüren in den Kopf gesetzt. Ich habe gleich gesagt, es endet nicht gut, wenn das Mädchen so viel Zeit mit den Pferden verbringt!«

       Die Augen des Colonels wirkten müde. Sein Gesicht grau und eingefallen. Es schien, als würde ihm der Streit zwischen den beiden Frauen den letzten Rest seiner Kraft entziehen.

       »Es hat noch niemandem geschadet, wenn er früh lernt, sich um ein anderes Lebewesen zu kümmern. Meine Annika war so wild früher. Die Arbeit mit den Pferden hat sie immer beruhigt. Aber von dir, Theresa, hatte ich mehr erhofft. Ich habe dir die Erziehung meiner einzigen Tochter anvertraut. Als ich dich getroffen habe, die perfekte Lady, habe ich erwartet, dass du ein Vorbild für Annika wirst. Doch was hast du aus ihr gemacht? Ein Mannsweib!«

       Beiden Frauen klappte der Mund auf, doch der Colonel erstickte


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