Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella
er schon wieder auf dem Kutschbock.
»Geh ruhig schon mal rein, Prinzessin. Ich kümmere mich um dein Gepäck.«
Mit einem Mal unsicher, erklomm Annie die Stufen zur Eingangstür und schob sie auf. Die Empfangshalle war bis auf den Kronleuchter leer. Unentschlossen schlich sie in Richtung Treppe und blickte sich noch einmal suchend um. Enttäuschung wallte in ihr auf. Ihre Heimkehr hatte sie sich irgendwie – lebhafter vorgestellt. Nach einigen Minuten des Wartens kam sie sich fehl am Platz vor und entschied, zu ihren Räumlichkeiten hinaufzusteigen.
Bedrückt schob sie die schwere Mahagonitür auf. In der Mitte des Zimmers drehte sie sich einmal im Kreis und ließ sich schließlich auf die Matratze plumpsen. Der Raum wirkte seltsam seelenlos. Bis auf das Bett, den Schrank und den kleinen Frisiertisch, den sie früher eher als Schreibtisch verwendet hatte, waren die Wände kahl.
Offensichtlich hatte Theresa nicht gezögert und alle Kleinigkeiten entfernt, die von den zwölf Jahren ihrer Kindheit zeugten. Keine Bücher standen mehr im Regal. Die zum Kerzenständer umfunktionierte Wurzel war verschwunden. Von ihren Kinderzeichnungen waren nur blasse Stellen an der Wand geblieben. Einzig die sonnig-gelben Vorhänge, auf denen rote Mohnblumen und weiße Gänseblümchen tanzten, bildeten tröstliche Farbtupfer.
Es gab nichts, was sie hier tun konnte. Gerade hatte Annie sich entschieden, dem Stall einen Besuch abzustatten, als jemand anklopfte. George trat ein, stellte ihre Tasche in der Mitte ab und drehte sich schon wieder zum Gehen.
»Falls du mich brauchst – ich bin Mistschaufeln.«
»Warte!«, rief ihm Annie hinterher.
Doch schon fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Warum fühlte sie sich plötzlich wie ein ausgesetztes Kätzchen? Besser, sie lenkte sich ab und packte ihre Habseligkeiten aus. Mit Sorgfalt ordnete Annie ihre Bücher auf dem Regal an und, da der Platz nicht ausreichte, den Rest am Tischchen daneben. Die Kleider, die sie in ihrem Kindheitszimmer zurückgelassen hatte, waren aus dem Schrank verschwunden. Obwohl sie aus den Sachen längst herausgewachsen war, stimmte sie diese Tatsache traurig. Unschlüssig setzte sich Annie wieder auf die Bettkante. Was jetzt?
Da horchte sie auf. Forsche Schritte erklangen vom Gang, dann klopfte es wieder.
»Herein?« Annies Herz pochte unruhig.
Die Tür flog auf und Theresa persönlich stand im Raum. Sie war immer noch so blond und schön und streng wie Annie sie in Erinnerung hatte. Nur wirkte sie jetzt kleiner.
»Wie reizend, dass du schon da bist, Kindchen!«
Annie zog die Augenbrauen zusammen über diese Anrede. Ihre Stiefmutter war selbst erst fünfundzwanzig. Warum benahm sie sich immer wie eine überspannte Matrone?
»Heute Abend kommen General Hobson und General Burbridge, der Befehlshaber deines Vaters, mitsamt ihren Ehefrauen zu Besuch. Wir müssen dir etwas Süßes zum Anziehen heraussuchen. Hast du ein nettes Häubchen dabei?« Während sie vor sich hin zwitscherte, fing sie an, Annies Reisetasche zu durchforsten. Die Sorgenfalten auf ihrem sonst so makellosen Gesicht wurden immer tiefer, bis sie endlich verwirrt die Hände in den Schoß legte. »Wo hast du denn deine Kleider für gesellschaftliche Anlässe?«
Annie zuckte ratlos mit den Schultern. In der Schule hatte es solche Anlässe nicht gegeben.
»Meine Abendroben dürften dir alle ein gutes Stückchen zu kurz sein«, dachte Theresa laut nach. »Und meine Schneiderin ist zwar flink, aber sie kann nicht zaubern.«
Ein unangenehmes Schweigen breitete sich im Raum aus.
»Kann ich nicht meine Schuluniform anbehalten?«, fragte Annie schließlich erschöpft. Über Kleider zu diskutieren, war gerade das Letzte, nach dem ihr der Sinn stand. Die Reise war anstrengend gewesen. Sie wollte eigentlich nur mit ihrem Vater dinieren, ein Bad nehmen und endlich in ihre Kissen fallen.
Theresa zog ihre feinen Augenbrauen hoch. »Wir sagen einfach, du kämst erst morgen zurück, Liebes. Das wird wahrscheinlich das Beste sein. Du bist so oder so bestimmt schrecklich müde. Ich lasse dir dein Abendbrot aufs Zimmer bringen. Bitte entschuldige mich. Ich sollte Mrs. Foster wirklich noch Instruktionen für das Dinner geben.«
Sprachlos starrte Annie auf die Tür, die hinter ihrer Stiefmutter ins Schloss fiel. Mit Tränen in den Augen sprang sie vom Bett. Sie musste jetzt einfach einer treuen Seele nahe sein.
Midnight Maiden schnaubte sanft, als Annie die Stirn gegen ihren Hals schmiegte. Die nachtschwarze Stute hüllte sie mit ihrer freundlichen Ruhe und ihrem warmen Duft ein.
»Hier steckt mein kleines Mädchen!«
Annie drehte sich langsam zu dem einzigen Menschen auf der Welt um, der sie klein nennen durfte.
»Vater!« Ein Strahlen erhellte ihre Miene.
Das Lächeln im grauen, faltigen Gesicht ihres Vaters war müde. Wann war sein Haar vollständig weiß geworden? Colonel Bailey war immer eine breitschultrige Gestalt gewesen. Jetzt schlackerte die Galauniform um seinen Körper.
»Ich hätte mir denken können, dass ihr beide euch treu bleibt.« Er trat einen Schritt nach vorne und kraulte seine Stute zärtlich zwischen den Ohren. »Wenn Gott will, bekommt unsere Alte hier im Juni wieder ein Fohlen.« Bevor Annie reagieren konnte, fuhr er fort: »Theresa hat mir gerade erst verraten, dass sie dich ebenfalls über die Feiertage hat kommen lassen. Es ist das erste Mal seit 1860, dass die ganze Familie an Weihnachten am selben Tisch sitzt. Ist das zu glauben?«
Auf den Rest der Familie hätte Annie auch dieses Jahr gut und gerne verzichten können. Doch sie beschloss, die kostbare Zeit mit ihrem Vater zu genießen.
»Hast du Christopher schon getroffen?«, fragte er.
Annie schüttelte den Kopf. Wenn möglich, verdrängte sie die Existenz ihres fünfjährigen Halbbruders.
»Stell dir vor – er kann immer noch nicht reiten! In seinem Alter warst du kaum von Midnight Maidens Rücken zu bekommen. Vielleicht könntest du es ihm ja beibringen, solange du hier bist?«
»Könnte ich vielleicht.«
Eigentlich war Annie froh darüber, ihren Bruder wenigstens in dieser Disziplin zu schlagen. Als niedliches Baby, männlicher Erbe der Zucht und Sohn der aktuellen Mrs. Bailey hatte er sie direkt bei seiner Geburt auf Rang zwei verwiesen. Warum war sie selbst nicht als Mann geboren? Dann wäre sie der Erbe, und sie würde ihre Sache gut machen. Das Leben war ungerecht!
»Kommst du wieder mit ins Haus?«
»Ich bleibe noch ein bisschen, wenn du erlaubst.«
Ein stolzes Lächeln erhellte das Gesicht ihres Vaters. Er verstand sie. Bestimmt würde er sich freuen, wenn sie ihm anvertraute, dass sie ihr Zuhause nie verlassen würde und stattdessen mit ihm Pferde züchten wollte.
Später am Abend lag Annie hellwach im Bett. Ernste Männerstimmen drangen zusammen mit einem würzigen Rauchgeruch durch den Kamin zu ihr herauf. Das Abendessen hatte sie ganz allein eingenommen, während die Gäste unten bewirtet wurden. Danach hatte sich ihr Vater mit General Burbridge und General Hobson zum Rauchen zurückgezogen, um über Politik zu diskutieren. Wie schon früher verstand Annie jedes Wort, das im Zimmer unter ihr gesprochen wurde, selbst als sie sich ihr Kissen aufs Ohr drückte. Sie wollte endlich einfach nur schlafen.
»Haben Sie schon gehört? Er ist wieder auf freiem Fuß!«
»Seit wann?«
»Bereits seit dem 26. November. Bis jetzt bestand noch die Hoffnung, ihn wieder einzufangen.«
»Aus dem Ohio-Staatsgefängnis? Wie hat er das angestellt, der Teufelskerl?«
Von wem war die Rede? Annie legte das Kissen doch lieber zur Seite.
»Zusammen mit sechs seiner Offiziere hat er einen Tunnel von seiner Zelle in den Gefängnishof gegraben. Von dort sind sie mit zusammengeknoteten Bettlaken über die Mauer. Wie man jetzt erfahren hat, sind sie dann einfach dreist in den Personenzug nach Cincinnati gestiegen. Danach verliert sich jede Spur.«
Ausgerechnet in Cincinnati! War Annie dem Verbrecher auf der Straße begegnet?