Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella
ursprünglich für das heutige Festessen reserviert gewesen.
Ein Klopfen ließ uns zusammenzucken. Wir tauschten Blicke und hofften, uns verhört zu haben. Erneutes Pochen. Lauter diesmal und mit mehr Nachdruck. Zögernd stand Charlotte auf. Ich folgte ihr und griff nach der geladenen Flinte über der Tür, während sie den Riegel zurückschob. Das Heulen des Windes verschluckte das Klicken, als ich das Gewehr entsicherte.
»Was wollen Sie, Mister?«, fragte Charlotte.
Die Antwort ging im Sturm unter.
»Kommen Sie herein. Mit erhobenen Händen und ganz langsam.«
Ich hielt den Lauf auf den Spalt gerichtet. Charlotte öffnete die Tür und wich zurück. Aus dem Dunkel schälte sich die Gestalt eines Mannes. Seine zusammengewürfelte Uniform war mit Schnee verkrustet, der rechte Ärmel knapp unterhalb der Schulter verknotet. Obwohl sein Gesicht unter der Hutkrempe im Schatten lag, kam er mir bekannt vor.
»Danke Ma’am, dass Sie mich hereinbitten.«
Der Spott war beinahe vollständig aus seiner Stimme verschwunden. Trotzdem erkannte ich sie sofort. Bill.
»Was wollen Sie von uns?«, wiederholte Charlotte drohend.
Ich ließ ihn keinen Wimpernschlag aus den Augen.
»Der Sturm hat mich überrascht«, sagte er kleinlaut. »Ich bin froh, zufällig auf Ihr Haus gestoßen zu sein …«
Von wegen Zufall! Wahrscheinlich war er wieder auf einer Beobachtungs- und Sabotagemission.
Charlotte war ebenfalls misstrauisch, aber die Höflichkeit siegte. »Legen Sie doch Ihren Hut und Mantel ab und setzen sich zu uns.«
Fünf Augenpaare verfolgten, wie der Neuankömmling neben seinen Kleidungsstücken auch langsam seinen Revolvergurt abschnallte und daneben hängte. Ein stummes Angebot zum Waffenstillstand. Zur Antwort stellte Charlotte eine große Blechtasse mit dampfender Flüssigkeit und ein Stück Brot vor ihn auf den Tisch.
Erkannte sie denn nicht, dass er beim Überfall dabei gewesen war? Wie konnte ich es ihr und Ma unauffällig mitteilen? Aber dann müsste ich gleichzeitig gestehen, dass ich den Angriff beobachtet und nichts unternommen hatte. Hatten der Rest meiner Familie überhaupt mitbekommen, dass die Mordbrenner Delilah bei uns auf der Ranch gefunden hatten?
In angespanntem Schweigen verfolgten wir jede Handbewegung unseres Gastes und lauschten dem genüsslichen Schlürfen, Schmatzen und Rülpsen. Für meinen Geschmack machte er eine zu große Schau um das karge Mahl. Nach und nach zupften auch wir wieder an unseren Broten. Schüchtern hielt Ben dem Fremden seine noch ganz ansehnliche, wenn auch nass glänzende Zuckerstange hin. Dieser lehnte mit einem Grunzen ab.
Bald war auch der letzte Krümel verzehrt, der Sturm aber wütete mit unverminderter Leidenschaft. Keiner wagte, sich zu erheben. Ben schlug rhythmisch mit seinem Fuß gegen ein Tischbein. Die Anspannung war eine fast sichtbare Besucherin im Raum. In aller Ruhe wischte sich Bill mit dem Ärmel über den Mund; seufzte zufrieden; griff in seine Tasche. Wir hielten die Luft an.
»Jemand Lust auf ’ne Runde Poker?« Er klopfte mit den Karten auf den Tisch, während er uns abschätzend der Reihe nach musterte.
Unsere Blicke glitten automatisch zu Ma. Als ob sie die Frage nicht gehört hätte, erhob sie sich, ließ sich in ihrem Schaukelstuhl am Feuer nieder und nahm ihr Strickzeug zur Hand. Das war wohl eine Zustimmung. Wie sollte ich ihr nur mitteilen, dass wir hier einen gewaltigen Fehler begingen? Dass wir uns in Gefahr befanden?
Meine Geschwister scharten sich eifrig um Bill und seine Karten – selbst Charlotte, die großen Wert auf Moral und Anstand legte, was Glücksspiel eindeutig ausschloss. Normalerweise. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Das Leben fern der Stadt bot kaum Abwechslung. Besonders jetzt im Winter waren wir oft tagelang ans Haus gefesselt und die Stunden zogen sich in die Länge. Unauffällig stellte ich mich zwischen den Mann und seine Waffe am Haken. Wenigstens würde ich es ihm nicht leicht machen. Egal was er insgeheim plante.
»Sind Sie Profispieler?«
Bill lachte rau über Bens unschuldige Frage. »Einarmige Profispieler gibt es nicht. Habt ihr irgendwas, das wir als Einsatz verwenden können?«
Unschlüssig sahen wir in die Runde.
Plötzlich leuchtete Marys Gesicht auf. »Wir haben Knöpfe!« Sie sprang auf und kam mit einer Handvoll davon zurück. Bill schaute zuerst etwas ungläubig, akzeptierte die Währung dann aber kommentarlos und reichte das Deck zunächst an Charlotte zum Mischen. Geschickt teilte er die Karten einzeln direkt vom Stapel aus.
Es dauerte, bis wir uns alle Symbole und Farben eingeprägt hatten und verstanden, welche Kombinationen andere übertrumpfen konnten. Dann aber ging es hoch her. Selbst ich ließ mich von der allgemeinen Aufregung anstecken. Charlotte schlug meine Zwillinge mit einem Full House, musste sich aber Bens Flush geschlagen geben. Mary verlor jedes Spiel, weil ihr Gesicht aufleuchtete, wenn sie passable Karten bekam, oder sie eine Schnute zog, wenn ihr das Glück nicht hold war. Trotzdem hatte ich sie selten so zufrieden erlebt. Charlotte konnte sich am besten von uns merken, welche Bilder wichtig waren, und ihre Miene verriet ihr Blatt nicht mal ansatzweise. Manchmal beobachtete ich, wie sie Ben den Vorzug ließ, obwohl sie ihn mit links hätte schlagen können. Wegen seines verkrüppelten Arms musste Bill seine Karten verdeckt vor sich legen. Trotzdem gewann er die Knöpfe am häufigsten für sich. Dabei schaffte er es irgendwie, uns zu unsinnig hohen Einsätzen zu bewegen. Nach einiger Zeit lag der gesamte Haufen vor ihm.
»Wollt ihr noch mal?«
Die Frage erübrigte sich. Natürlich wollten wir!
»Na, dann zeige ich euch vorher noch ein paar Tricks, wie ihr euren Gewinnchancen ein wenig auf die Sprünge helfen könnt.«
Zum Glück überhörte Ma die Bemerkung. Kartenspielen mochte sie noch tolerieren; Schummeln hätte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Los ging es mit dem Mischen. Bill ließ es uns der Reihe nach versuchen und forderte uns dann auf, uns zu merken, wo bestimmte Karten im Deck steckten. Am schnellsten fand ich immer die Kreuz Neun, weil sie an einer Ecke eingeknickt war. Es war gar nicht so einfach, unauffällig unter die Karten zu linsen. Irgendwann gelang es mir aber leidlich, genauso wie die obersten und untersten Karten an ein und derselben Position im Stapel zu lassen.
»So. Es ist Zeit zum Schlafen!«, schritt Ma irgendwann ein.
Verblüfft blickten wir auf. War es schon so spät? Der Sturm musste sich vor Stunden gelegt haben. Von draußen klang kein Laut mehr herein.
Bill sammelte die Karten ein, erhob sich halb vom Tisch, doch dann ließ er sich auf den Stuhl zurücksinken. Sein Ausdruck war plötzlich grimmig.
Er blickte uns alle der Reihe nach an. »Nehmt euch vor Freddy Johnson in Acht!«
Sofort sah ich das bleiche Gesicht mit den kalten blauen Augen vor mir. Die wehenden weißblonden Haare. Mir stellten sich die Härchen im Nacken auf.
»Der Mann ist nicht ganz richtig im Kopf. Das müsst ihr verstehen! Im Krieg gegen Mexiko hat er mitansehen müssen, wie mexikanische Soldaten seine Mutter und seine Schwestern geschändet und ihnen danach die Kehle durchgeschnitten haben. Damals war er keine zehn Jahre alt und am Ende haben sie auch ihm den Hals aufgeschlitzt. Es grenzt an ein Wunder, dass er überlebt hat. Nachdem seine Wunde verheilt war, ist er losgezogen, um an der Seite seines Vaters gegen die Mexikaner zu kämpfen. Er stand direkt daneben, als sein alter Herr von einer Kanonenladung zerfetzt wurde.«
Wir schwiegen betroffen.
»Der arme Junge«, flüsterte Charlotte erstickt.
»Von wegen arm!«, zischte Mary. »Er hat Pa ermordet!«
»Was hat er eigentlich gegen uns?«, wagte ich, die Frage zu stellen, die mich seit dem Überfall quälte. »Dass er Mexikaner nicht mag, kann ich verstehen. Aber warum wir?«
Bill zuckte mit den Schultern. »Freddy verübelt es den Vereinigten Staaten, dass sie Texas annektiert haben. Sie haben der Republik Texas die Unabhängigkeit genommen und den zweiten Krieg gegen Mexiko begonnen. Er hasst jeden, der nach Texas eindringt und die gleichen Rechte