Die Brücken zur Freiheit - 1864. Christine M. Brella
Das ist so sicher wie der Schnee im Winter. Dann wird er sich wieder nach Kentucky schleichen und morden, Pferde stehlen und brandschatzen!«
»Schütze uns Gott vor diesem Donnerkeil!«
Annie bekam eine Gänsehaut. Es war General Morgan, der wieder frei war! Solange er existierte, bedrohte er ihre Pläne für die Zukunft! Würde er einen Angriff auf Kentucky wagen? Er stammte aus diesem Staat und würde nie akzeptieren, dass sich seine Heimat der Union des Nordens angeschlossen hatte. An Einschlafen war so schnell nicht mehr zu denken.
14 Nick – 25. Dezember 1863
W eihnachten, war mein erster Gedanke nach dem Aufwachen. Ich weigerte mich, die Augen zu öffnen. Stattdessen stellte ich mir die Gesichter meiner Familie an einem anderen, vergangenen Weihnachtsmorgen vor. Wir hatten uns erst kurz zuvor in Texas niedergelassen, und das Haus duftete nach frischem Holz und Schnee. Alle waren erfüllt mit der Hoffnung auf ein besseres Leben. Die Weiten der Prärie standen im Kontrast zu der dunklen Enge der Wälder, denen wir entkommen waren, und führten uns jeden Tag unsere neue Freiheit vor Augen. Unsere eigene Ranch! Ein Traum war in Erfüllung gegangen. Ben war noch ein Kleinkind gewesen, trotzdem war er der Erste, der seinen Strumpf vom Küchenherd pflückte und uns mit seinem begeisterten Gejohle weckte. Lachen und Fußgetrappel hallten durch das Haus. Damals hingen sechs prall gefüllte Strümpfe am Kamin; vollgestopft mit Nüssen, Zuckerwerk, selbstgestrickten Mützen, Murmeln für die Jungen und Puppenkleider für die Mädchen. Meine Geschwister strahlten um die Wette, als sie die Kostbarkeiten herausschälten, und brachen dann in lautstarke Zankereien aus. Wer hatte die besten Geschenke bekommen? Unsere Eltern standen zufrieden lächelnd im Türrahmen und hielten sich an den Händen. Diese Geste hatte mir Tränen in die Augenwinkel getrieben. So eine Zärtlichkeit zeigten sie vor uns Kindern sonst eigentlich nie. Beim Gedanken an das damalige Festessen aus Braten, Wildbret, Weizenbrot, Apfelkuchen und Brotpudding, das auf uns gewartet hatte, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Mein Magen knurrte hungrig. Ich schlug die Lider auf und sprang aus dem Bett. Eine unsinnige Hoffnung brannte in mir.
Natürlich hingen heute nur die drei Strümpfe am Kamin, die wir gestern Abend aufgehängt hatten. Charlotte hatte erklärt, dass sie als verlobte Frau zu alt für Kinderbräuche sei. Jeweils eine einzelne Zuckerstange ragte aus dem Bund und nur Bens Socke wies eine kleine Beule auf. Zögerlich trat ich näher. Ben flitzte an mir vorbei und zog den Gegenstand heraus. Es dauerte einige Augenblicke, bis meine Fantasie eine geschnitzte Kanone hineininterpretiert hatte. Mein kleiner Bruder starrte auf das Ding und drehte es unschlüssig in den Händen. Das Kanonenrohr war kunstvoll geformt. Auch ein großes Rad mitsamt filigranen Speichen war fast vollendet. Doch das zweite war verschnitten und der Teil dazwischen steckte noch im unbearbeiteten Rohholz.
»Ich hab versucht, es fertigzustellen, aber meine Hände sind dafür nicht geschaffen.« Mas erstickte Stimme klang von der Tür. Sie strich über einen verkrusteten Schnitt an ihrem Zeigefinger, wahrscheinlich ohne es zu merken.
»Das macht nichts.« Ben lächelte tapfer. »So eine hab ich mir schon lang gewünscht!«
Still ließ er sich vor dem Kamin nieder und positionierte die Kanone so, dass sie auf die ungeschützten Fußsoldaten zeigte. Er stieß ein Knattern aus und ließ eine Holzfigur nach der anderen umkippen. Seelenruhig stoppte er dann den Beschuss, stellte jeden Soldaten wieder auf seinen Posten und begann von vorne. Wir Älteren suchten den Blick unserer Ma, die zu Boden blickte.
»Heuer hatten Vater und ich keine Zeit, auch für euch etwas zu besorgen.« Dann wurde sie wieder resolut wie früher. »Mary, du hilfst mir beim Brotbacken. Nicky, fache das Feuer an und bring danach mehr Holz von draußen – das musst du vorher aber noch zerkleinern. Mach die Scheite diesmal wenigstens ungefähr gleich lang! Charlotte, ich glaube, wir haben kein Wasser mehr im Haus – hol’ Eis vom Brunnen und lass es am Herd schmelzen.«
Kurze Zeit später stach mir der rauchige Geruch nach frisch entzündetem Feuer in die Nase und die Augen. Stolz blickte ich in die knisternden Flammen, deren Wärme meine kühlen Backen traf. Ich hatte einen dicken Ast als Stütze für die Späne verwendet. Obwohl die Scheite leicht klamm gewesen waren, war es mir mit nur einem Schwefelholz gelungen, sie zum Leben zu erwecken. Einen Moment wartete ich noch, bis das Feuer so kräftig war, dass es nicht mehr ausgehen würde. Dann schob ich noch zwei Prügel nach und legte das verbleibende Holz neben den Ofen, damit die anderen Nachschub hatten, wenn die erste Ladung heruntergebrannt war. Danach zog ich mir meinen Mantel über.
Draußen trieb ein Windhauch Herden aus losem Schnee über die Ebene. Obwohl es schon spät am Morgen war, war es noch düster. Ein Blick zum Himmel bestätigte meine Befürchtung. Grauschwarze Wolken türmten sich dort oben und kündeten einen Sturm an. Verbissen machte ich mich an die Arbeit.
Während ich Scheit um Scheit spaltete und meine Oberarme anfingen zu schmerzen, drehten sich meine Gedanken wie der Schneewirbel. Was sollten wir essen, bis der Krieg vorbei war? Für ein paar Tage hatten wir noch Vorräte, doch dann mussten wir in die Stadt zum Einkaufen. Nur war die Dose mit unserem Ersparten leer bis auf einen Blechknopf. Über die Monate hatten wir alles verkauft, was wir nicht zum Überleben benötigten. Zum hundertsten Mal ging ich die Dinge durch, die infrage kamen. Das Gewehr brauchten wir! Freddy und Konsorten lauerten immer noch irgendwo in unserer Nähe und konnten jederzeit wieder auftauchen. Beim nächsten Angriff würde ich mich ihnen stellen!
Axt, Messer und Nähnadeln konnten wir genauso wenig entbehren. Vielleicht den Schecken oder Daisy? Allein bei diesem Gedanken wurde mir schlecht.
Sollte ich losreiten und nach James und Andrew suchen? Meine Brüder würden wissen, was zu tun war. Ich stellte mir vor, wie ich sie nach endloser Suche fand und mitten in ihr Lager ritt. Der Gedanke an hunderte Soldaten, die sich um mich drängten, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Danach müsste ich meinen Brüdern gegenübertreten und vom Überfall berichten – und von meinem Versagen.
Nein! Solange Freddy Johnson in der Gegend herumstrich, konnte ich meine Familie nicht allein lassen. Selbst wenn ich gewusst hätte, wo sich James und Andrew im Moment aufhielten, hätte ich nicht weggekonnt. Aber es war Monate her, seit wir das letzte Mal von ihnen gehört hatten. Irgendwie musste ich es aus eigener Kraft schaffen.
Meinem Magen zufolge war es Zeit fürs Mittagessen. Ich verstaute das Beil und belud mich mit ein paar Holzscheiten. Der Wind war jetzt so stark, dass ich mich auf dem Rückweg zum Haus gegen die schneidende Kälte stemmen musste. Es war beinahe nachtschwarz und immer wieder trafen mich aus dem Nichts Eiskristalle im Gesicht. Ein scharfer Schmerz durchzuckte meine Wange. Reflexartig drehte ich mich weg und schloss die Augen. Die Wunde, die das Gestrüpp vor wenigen Tagen in meinem Gesicht hinterlassen hatte, brach auf und warme Flüssigkeit lief meine Backe hinunter bis zum Kinn. Ich blinzelte – und sah in vollständige Dunkelheit. Panik kroch in mir hoch. Fast hätte ich das Holz zu Boden fallen lassen und wäre losgelaufen. Aber in welche Richtung? Ich zwang mich, ruhig zu atmen, balancierte das zentnerschwere Holz auf einem Arm und streckte vorsichtig den anderen nach vorne. Leere. Dann raue Bretter. Tastend folgte ich der festen Hauswand. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ich den Eingang und stolperte hinein. Mary kreischte los und Charlotte sprang geistesgegenwärtig auf und schlug die Tür hinter mir ins Schloss.
Wärme und der Duft nach frisch gebackenem Brot hüllten mich ein. Eine Laterne am Tisch warf ihr flackerndes Licht in den Raum. Ausnahmsweise war ich heilfroh, innerhalb der schützenden vier Wände zu sein. Ich klopfte den Matsch von meinen Stiefeln und lud die Holzscheite polternd in einem Stapel neben dem Herd ab.
Aufatmend schüttelte ich meine schmerzenden Arme und Schultern aus und setzte mich zu den anderen an den Esstisch. Charlotte drückte mir einen Becher mit kaffeeartigem Inhalt in die kalten Finger. Statt Kaffeebohnen verwendeten wir dafür gerösteten Roggen.
»Danke!« Ich lächelte ihr zu und blies in die heiße Brühe.
Schweigend saßen wir alle da, mit einem Stück warmen Maisbrots in der einen Hand, lutschten hin und wieder an unserer Zuckerstange in der anderen und lauschten dem Sturm, der unerbittlich an den Fensterläden rüttelte. Probeweise weichte ich das Brot im sogenannten Kaffee auf. Dadurch, dass es nur aus Mehl, Salz und Wasser bestand – den einzigen Lebensmitteln,