Frosch, König und Königin. Axel Adamitzki

Frosch, König und Königin - Axel Adamitzki


Скачать книгу
sollte ihm der Zwiespalt seines Lebens, der ihm oft genug seine zukunftsträchtigen Gedanken verstellte, erneut schonungslos deutlich werden.

      Dominik war enttäuscht. Man sah es ihm an. Obwohl, er sah immer aus, als sei er enttäuscht. Allein Menschen, die ihn wirklich kannten, würden den Unterschied sehen. Und im Grunde traf das einzig auf einen Menschen zu: auf seine Mutter. Zumindest glaubte er das.

      »So, damit haben wir es für heute. Noch Fragen?«, rief er in die Runde und blickte jeden Anwesenden kurz an.

      Natürlich nicht. An einem Freitag um vierzehn Uhr gab es Nachfragen, wenn am folgenden Montag die Klausur in darstellender Geometrie bevorstand, auf die die Studierenden, die hier in seinem Tutorial saßen, sich vorbereiteten. Heute, mitten im Semester, wollten alle lediglich weg.

      »Gut. Und ein schönes Wochenende. Wir sehen uns am Dienstag wieder.« Freudlos sah er die sieben Studenten an. Der achte Platz war erneut leer geblieben. Bekümmert und bedrückt wendete Dominik sich ab.

      Während der Seminarraum sich leerte, sammelte Dominik seine Unterlagen zusammen, ließ sie in seine abgewetzte braune Ledertasche gleiten und blickte noch einmal hinüber zu dem achten Platz. Was ist mit ihr?, fragte er sich. Heute fehlt sie schon zum dritten Mal. So wird sie die Klausur ganz sicher nicht bestehen.

      Dominik schüttelte den Kopf, nahm seine Tasche, trat an die Tür, hob seinen Mantel vom Haken, sah sich ein letztes Mal um, löschte das Licht und ging verdrossen, mit gesenktem Kopf, den langen leeren Flur entlang. Ein langweiliges, austauschbares Wochenende stand ihm bevor. Wie er das hasste. Nichts daran konnte er ändern. Ihr Blick, freundlich und verloren, Hilfe suchend und voller Zweifel, hätte ihn getragen – der Blick seiner Prinzessin.

      Auf der Straße tauchte er in einen trüben Januartag ein. Den Kopf eingezogen, wirkte er keinesfalls wie ein Mann von eins vierundachtzig, zudem verschwand der Kopf hinter dem hochgeschlagenen Mantelkragen, was ihn beinahe gänzlich in seinem langen Wintermantel verschwinden ließ. Die blauen Augen, ewig suchend, tasteten still den Gehweg ab. Die hängenden Schultern passten so gar nicht zu seinem festen Schritt.

      Dominik wurde kalt. An den Ohren, in seinen Gedanken. Er blieb kurz stehen, zerrte aus der Manteltasche eine schwarze Strickmütze hervor und zog sie sich über den halblangen Haarschopf. Links und rechts lugten braune wellige Strähnen unordentlich wie bei einem kleinen Jungen hervor. Die Ohren waren nun geschützt, die Gedanken froren noch immer.

      Ohne Hast ging er weiter, zur U-Bahn. Camilla Dammers, dachte er. Meine Prinzessin. Was sie wohl macht? Ihren Namen würde er nie vergessen.

      *

      Die vier Stationen bis nach Hause stand er wie immer angelehnt neben einer Tür. Niemand achtete hier auf ihn. Man war mit sich beschäftigt, teilte der Welt aufgefordert oder unaufgefordert oder gar aufdringlich mit, wo man sich im Moment befand, was man gerade tat, oder man las oder war mit geschlossenen Augen in sich gekehrt. Das Ruckeln des Zuges, die Trägheit der Körper, die vor und zurück, nach links und rechts gezogen oder gedrückt wurden, glich einer einstudierten Choreografie – mehr verband die Menschen in der U-Bahn nicht miteinander.

      An jedem Bahnhof hob Dominik kurz den Kopf, blickte auf den Stationsnamen und war beruhigt. Ein paar Kilometer blieben ihm für Gedanken und Träume – ein Ritual.

      Noch nie hab ich sie lachen gesehen, dachte er. Ihre Augen, tiefbraun und rund. Glubschaugen? Er schmunzelte. Nein, beileibe nicht, sie sind makellos. Wie alles an ihr. Und ihre Traurigkeit war der Zauber, dem er vom ersten Moment an erlegen war.

      Dreimal schon. Erneut schüttelte er den Kopf. Kommt sie am Ende gar nicht mehr?

      Nein, nur das nicht. Die Mundwinkel verloren den Halt und rutschten ab.

      Wusste sie denn nicht, dass sie freitags dafür sorgte, dass er sich bereits auf den Montag freute? Dass er das Elend des Wochenendes hinter sich gebracht hatte und es lediglich noch ein Tag war, bis er sie wiedersah? Und wusste sie nicht, dass er sich dienstags schon auf den Freitag freute? Woche für Woche?

      Nein, all das wusste sie nicht.

      ›Kaiserdamm‹. Dominik stieg aus und bevor er auf der Straße war, gingen ihm seine Träume verloren. Weitergefahren waren sie nicht. Das hatte er einmal ausprobiert. Bereits am nächsten Bahnhof war er ausgestiegen und zurückgelaufen. Das schlechte Gewissen, Haltloses getan zu haben, hatte während der kurzen Weiterfahrt beharrlich an ihm gezerrt. Wo seine Träume jeden Tag verweilten, wusste er nicht. Natürlich wusste er es, nur konnte er ihnen dorthin allein nicht folgen.

      Dominik öffnete die Haustür und stieg zur ersten Etage hinauf. »Beletage«, verkündete seine Mutter immer gern, wenn sie um eine Beschreibung ihres Zuhauses gebeten wurde. »Vier Zimmer, Balkon, zwei Bäder, eine Küche, ein Gästeklo und eine geräumige Abstellkammer«, ließ sie zusätzlich wissen. Eine solche Wohnung in Berlin, am Kaiserdamm, das war schon was. Natürlich Eigentum, doch das ließ sie stets unerwähnt. »Über Geld spricht man nicht, mein Junge«, hatte Dominik früh von ihr gelernt. Seit fünf Jahren gehörten ihr auch die restlichen Wohnungen des Hauses, von den Eltern geerbt. Und auch darüber sprach sie nie.

      In der Beletage lebte Dominik mit seiner Mutter. Als Student wohnt man bei seinen Eltern, das ist legitim, war ein Mantra, das ihn in den letzten zwei, drei Jahren immer öfter überfiel.

      Sein Vater hatte seine Sachen packen müssen, als Dominik keine drei Jahre alt gewesen war. Also gab es hier seit über zwanzig Jahre ausschließlich ihn und seine Mutter.

      Das war in Ordnung. Unter der Woche. Heute nicht.

      Camilla, ihre wiederholte Abwesenheit beim Tutorial, hatte ihn enttäuscht, und er wollte wenigstens mit seiner Trauer, wenn ihm schon die Träume abhandengekommen waren, ein paar Augenblicke allein sein und nicht sofort in das Gesicht seiner Mutter blicken müssen, das ewig forderte und ihn beobachtete. Sie sollte auch enttäuscht sein, zumindest einen Moment lang.

      Dominik schloss die Wohnungstür auf, zog bedachtsam seine Schuhe aus, stellte sie ordentlich auf das Abtropfgitter und verschwand in seinem Zimmer. Längst hatte sie ihn bemerkt, doch wollte er jetzt nicht ... Dominik ließ seine Ledertasche auf den Schreibtisch fallen, zerrte die Mütze vom Kopf, steckte sie zurück in die Manteltasche und zog den schweren Wintermantel aus.

      Bevor er auf seinem Bett lag, um sich zu entspannen, was ihm wieder nicht gelingen würde, das wusste er jetzt schon, lauschte er in die Stille. Und verächtlich zog er die Augenbrauen hoch. Sie stand bereits hinter der Tür. Dominik kannte die Geräusche, die sie beim Atmen machte, nur zu genau. Sie war herzkrank, behauptete sie, seit er denken konnte. »Du musst behutsam mit deiner Mutter umgehen«, hatte ihm vor langer Zeit ein Mann ... ein Arzt? ... gesagt. Dominik wusste nicht mehr, wer es gewesen war. Der Satz war hängen geblieben, ließ sich nicht ausradieren, war zu seiner Aufgabe geworden. Er hasste sich dafür. Geh behutsam mit deiner Mutter um. Und was ist mit mir?

      Dominik legte den Kopf auf das Kissen und starrte an die weiße Decke. Gleich würde sie in seinem Zimmer stehen, ohne angeklopft zu haben, dennoch behaupten, es getan zu haben, und ihn vorwurfsvoll fragend ansehen. Der Prolog zum Freitagsschauspiel. Lange schon war es eine Tragödie, mit ihm in der »männlichen« Hauptrolle.

      Seit zwei, drei Jahren träumte er davon, zumindest freitags, vor dem ersten »Vorhang« in der weißen Raufasertapete verschwinden zu können, für die Frau hinter der Tür unsichtbar zu werden. Und seit es Camilla in seinem Leben gab, träumte er, allein von ihr dort gesehen zu werden. Aus den Raufasererhebungen würde er ihr zu ihrem Lächeln verhelfen, dafür würde sie, seine Prinzessin, ihn aus der Wand erlösen.

      Was für ein Traum.

      »Da bist du ja.«

      »Du hast wieder nicht angeklopft.«

      »Sicher.«

      »Nein.«

      »Unsinn. Lass uns nicht streiten. Ich habe Kaffee gemacht und deinen Lieblingskuchen besorgt. Kommst du, mein Junge? ... Oder hast du zu tun?« Monika


Скачать книгу