Frosch, König und Königin. Axel Adamitzki

Frosch, König und Königin - Axel Adamitzki


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von sich behauptete, war ihre Erscheinung durch und durch bestimmend. Die kurzen graumelierten Haare, das ausladende Gestell ihrer schwarzen Hornbrille und die dünnen Lippen, die den Gesichtsausdruck beherrschten, zogen den Blick weg von den blauen stechenden Augen, die wortlos bestrafen konnten. Ein Umstand, den sie während ihrer Dienstzeit als Gymnasiallehrerin – sie hatte bis vor einem Jahr Deutsch und Geschichte unterrichtet – weidlich beansprucht hatte. Den viel zu großen Busen, den sie als Strafe Gottes auf sich nahm, kaschierte sie auch heute wieder mit einer weiten dunkelgrünen Seidenbluse. Die kurzen Beine, auf denen sie durchs Leben schritt, verbarg sie unter einem langen grauen Wollrock.

      Sie war mehr als einen Kopf kleiner als ihr Sohn, doch war das lediglich eine Äußerlichkeit.

      Ohne Antwort zu geben, starrte Dominik weiterhin die Zimmerdecke an und wartete einen Moment. Das waren seine Sekunden der Macht, die leider zu rasch vergingen.

      »Gib mir eine Minute«, sagte er schließlich, wobei er die Augen schloss. Einem kleinen Jungen gleich, wollte er nicht gesehen werden.

      »Ja, natürlich, mein Junge. Ich hole eben Kaffee und Kuchen aus der Küche und decke den Tisch im Wohnzimmer ein. Ich bin in fünf Minuten fertig.«

      Sie sah sich kurz um, stellte seine Ledertasche neben seinen Schreibtisch, nahm seinen Wintermantel hoch, legte ihn sich ordentlich über den Arm und verließ das Zimmer.

      Was für ein Auftritt.

      *

      Monika Bendow war achtunddreißig, als sie Dominik das Leben »geschenkt« hatte. Bald schon war er zu ihrem Königssohn geworden. Berthold Bendow, ihr Gatte, für den sie sich drei Jahre vorher entschieden hatte, vernachlässigte sie nach der Geburt des Sohnes mehr und mehr. Er war schlichtweg überflüssig geworden.

      Berthold war der Erste und Einzige, mit dem sie je das Bett als Mann und Frau geteilt hat. Und das auch nur zu einem Zweck. Mit zweiunddreißig war urplötzlich der Wunsch nach einem eigenen Kind in ihr erwacht. Woher dieser Wunsch rührte, fand sie nie heraus. Obwohl sie nach Ansicht ihrer ehemaligen Kollegen kaum Weiblichkeit zu bieten hatte, war sie immens wählerisch. Drei Jahre dauerte es, bis es Berthold Bendow gab. Es war keine Liebe; bei ihr allein das Verlangen nach einem Kind, bei ihm die Aussicht auf ein gemachtes Nest, aus dem er kaum drei Jahre nach Dominiks Geburt mit einer annehmbaren Abfindung behänd entfernt worden war. Nie wieder hatte sie von ihm gehört, auch das war im Abfindungsvertrag, der sicher verwahrt in ihrem Schreibtisch ruhte, festgelegt worden. Sie hatte ein Kind gewollt - einem gesunden Sohn hatte sie das Leben geschenkt.

      »Ja, ich habe es ihm geschenkt. Und dafür darf er mir ewig dankbar sein.« Gern und oft ließ sie diese Bemerkung im Bekanntenkreis, der überschaubar war, fallen. Auch Dominik musste sich diesen Satz mehr als einmal in der Woche anhören. Als Kind hatte er ihn mit Stolz erfüllt: Er war ein Geschenk, hatte er fälschlicherweise angenommen. Als Heranwachsender waren erste Zweifel aufgekommen, heute hasste er diesen Satz.

      Bescheidene Versuche, das »Geschenkkorsett«, kompakt und hart wie Stahl, das ihn einschnürte, zu lösen, waren vor zwei, drei Jahren kläglich gescheitert. Zu behaglich war das Leben letztlich in der Beletage – so sahen es seine Bekannten.

      Sie begriffen ihn nicht.

      Dominik liebte und hasste seine Mutter gleichermaßen. Für ihn war der Spagat zwischen sich lösen und sie zugleich ehren und achten allein nicht machbar – so sah er sich.

      Und so wartete er auf Erlösung, versteckt in der weißen Raufasertapete, und war bereit, ebenfalls für Erlösung zu sorgen. Der erlösende Erlöser – was für eine Tragödie.

      *

      Fünf Minuten später saß Dominik am Esstisch. Das warme gelbe Licht der Lampe darüber leuchtete bald einzig den Tisch aus und ließ den Wohnbereich mit Sessel und Couch, Wohnzimmertisch und Fernsehanrichte und auch vier Ölbilder im Stile Monets in einer gräulich schmutzigen Dämmerung verschwinden.

      Die antike Standuhr, rechts neben der Tür zum Flur, ein Erbstück ihrer Großmutter, schlug dreimal – Viertel vor vier.

      Das Freitagsschauspiel, Woche für Woche aufgeführt, konnte beginnen.

      Alles war ruhig. Auch das Leben auf der Straße, das kaum vernehmbar ins Zimmer drang, erschien nun wie das letzte Räuspern, kurz bevor die Aufmerksamkeit ganz den Schauspielern gehört.

      Käsemohnkuchen. Von seinem Lieblingsbäcker auf der Reichsstraße. Kein Weg war ihr für ihn zu weit. Dieser Gedanke erfüllte Dominik mit verachtendem Stolz.

      Stumm, mit gesenktem Blick, ließ er sich Kaffee einschenken, wartete auf den Spritzer Milch, den er entsetzlich liebte, nahm den Teelöffel und rührte lautlos um. Schließlich hob er die Kuchengabel von der Serviette, drehte den Kuchenteller, bis die schmale Seite des Kuchens auf ihn zeigte, und begann zu essen.

      Wortlos, mit einem dünnen Lächeln, beobachtete seine Mutter ihn, wie er Gabel für Gabel in sich hineinschaufelte. Immer mal trank sie einen Schluck Kaffee. Kuchen mochte sie nicht.

      Sie hoffte auf ein Wort von ihm, sie hoffte, er würde sein Leben mit ihr teilen, wie früher - sie hoffte vergebens. Bis vor drei, vier Jahren hatte er es getan, aus Liebe zu ihr. Alles hatte sie in sich aufgesaugt, nicht das kleinste Lächeln, nicht die unwichtigste Träumerei hatte sie sich nur angehört und ihm unversehrt und taktvoll zurückgegeben, nein, nichts hatte er behalten dürfen. Stets hatte sie ihn wie entleert in sein Zimmer entlassen.

      Nie hatte sie Kuchen gebraucht, sie hatte ja ihn.

      Das war vorbei.

      Mit verhaltener Stimme sagte sie schließlich: »Heute Abend wird auf ARTE eine Oper übertragen. ›Die Zauberflöte‹ ...«

      Dominik hielt den Blick gesenkt, kratzte die übrig gebliebenen Mohnkrumen vom Teller und schwieg. Letzten Freitag war es Molière, ›Der eingebildete Kranke‹, gewesen. Am Freitag davor ein Konzert der Berliner Philharmoniker. Und ... und ... und.

      »Wir könnten gemeinsam ... Wär doch schön, oder? Der Weinhändler hat heute Vormittag unseren Wein angeliefert. Zwölf Flaschen des Spätburgunders, den du so magst, sind auch dabei.« Beschaulich gespannt schloss sie den Mund, und sie wartete.

      Nun endlich war es an ihm. Wär doch schön, oder?, war sein Stichwort.

      Dominik hob den Kopf und sah sie überrascht an, wobei sie das spöttische Blitzen in den Augen nicht übersehen sollte. Und er sagte ... flüsternd und scheinbar voller Wehmut: »Schade. Heute Abend bin ich schon verabredet. Leider.«

      Ihr Blick veränderte sich, wurde kalt, eiskalt. Wie ihn dieses Echo wärmte. Seine Worte hatten sie getroffen, obgleich unvorstellbar, denn jeden Freitag waren es die gleichen.

      »Gehst du wieder in diese Kneipe?«

      »Ich treffe mich da mit Freunden.« Seine Erklärung klang völlig normal, dabei ging er bald ausschließlich dort hin, weil es sie störte. Freunde waren es nicht, die er Freitag für Freitag im Solo, einer Musikkneipe am Kiez, traf. Bis auf Stefan Huske waren es nichts anderes als Bier trinkende Bekannte, die zu später Stunde lauter grölten, als die Liveband spielen durfte, und es waren Frauen, die sich mit den Bier trinkenden Jungs amüsieren wollten.

      Freunde hatte er dort nicht. Und die Frauen? ... Nichts für ihn.

      Aber das wusste sie nicht.

      »Isst du vorher noch?« Diese Frage, unscheinbar und kalt, dennoch beinahe fürsorglich, war eine Falle. Auch die sah das Textbuch so vor – Freitag für Freitag. Und er trat in die Falle, weil seine Mutter ihm leidtat.

      »Gern. Am liebsten zwei Scheiben Graubrot mit Schabefleisch. Wenn du daran gedacht hast.«

      Natürlich hatte sie frisches Graubrot von seinem Lieblingsbäcker mitgebracht, auch war sie kilometerweit mit dem Fahrrad gefahren, um Schabefleisch beim Biometzger zu kaufen.

      »Ja ... dafür ist deine Mutter gut genug.«

      Spöttisch drehte sie sich ab und blickte zum Fenster. Es war dunkel geworden.


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