Kaspar - Die Reise nach Feuerland. Dan Gronie
War das Buch wirklich von seinem Ururgroßvater?
Großvater Joe räusperte sich.
»Also, dann will ich euch mal die Geschichte vorlesen: Von Tag zu Tag häuften sich die Berichte über schwarzmagische Zauberer, die sich in der Hauptstadt Arasin, das im Königreich Nebra lag, versammelten. Der Himmel hing ...«, las er mit ruhiger Stimme vor. Sebastian und seine Freunde saßen stillschweigend da und horchten gespannt, als Großvater Joe mit der Geschichte fortfuhr: »... voller dunkler Wolken, die sich wie eine große Glocke über das Königreich Nebra gelegt hatten. Kein einziger Sonnenstrahl drang an diesem Morgen durch die dichte Wolkendecke, und es wehte ein verdammt eisiger Wind, der aus östlicher Richtung auf die Stadt traf. Der Winter kündigte sich in diesem Jahr früher an. Das Südtor stand weit offen. Die Türme, die sich rechts und links des Tores befanden, waren von jeweils zwei Wachen besetzt. Regungslos blickten sie nach Süden, wo die ersten Schneeflocken das Land in eine weiße Landschaft verwandelten. Hoch auf der mächtigen Stadtmauer beugte sich ein alter, weißbärtiger Mann über die Brüstung, gehüllt in einen braunen Umhang, stand er da und blickte ebenfalls nach Süden. Der Schnee interessierte ihn nicht – er schien auf etwas oder jemanden zu warten.«
»War ihm nicht kalt, bei diesem miesen Wetter?«, fragte Lars.
»Tschsch ...«, zischte Juana.
»Ich kann ja wohl mal fragen«, bekam sie von Lars zu hören.
»Nein, ihm war nicht sonderlich kalt, denn er war ein weißmagischer Zauberer und hatte mit einem Zauber vorgesorgt, dass er – na ja, sagen wir mal, er musste kaum frieren«, erklärte Großvater Joe und las die Geschichte weiter vor.
»Der Zauberer zeigte ein freudiges Lächeln, als er vier Fremde entdeckte, die auf das Südtor zukamen. Die vom Wind zerzausten weißen Haare, strich er sich aus dem Gesicht.«
Großvater schlug eine Seite um und trank das Glas Limonade aus, bevor er weiter aus dem Buch vorlas: »Kaspar Addams und seine drei Freunde verließen gerade einen lichten Laubwald und näherten sich den Toren von Arasin ...«
»Wieso taucht denn der Name meines Ururgroßvaters in dieser Geschichte auf?«, fragte Sebastian erstaunt. »Soll er etwa in Arasin gewesen sein?«
Großvater Joe nickte.
»Ja, in der Tat, er war dort gewesen, Sebastian«, bestätigte Großvater.
»Wie ist er denn dorthin gekommen?«, wollte Juana wissen.
»Kaspar und seine Freunde haben eine magische Karte besessen, mit der sie in die Andere-Welt reisen konnten«, erklärte Großvater Joe.
»Ach, ja«, zweifelte Lars.
Großvater Joe nickte wieder.
Sebastian und Juana wechselten skeptische Blicke. Mein Großvater denkt wohl, wir sind noch kleine Kinder, denen man so eine Geschichte als wahr aufschwatzen kann, dachte Sebastian und fand die Äußerungen seines Großvaters äußerst peinlich. Was mochten seine Freunde bloß von seinem Großvater denken?
Niko schob sich einen Schokoladenriegel in den Mund und sprach: »Ist ja weit herumgekommen, Ihr Großvater.« Niko kaute und sagte dann: »Ach, kommt, Leute«, sprach Niko seine Freunde an. »Seid mal was lockerer und hört einfach zu.«
»Ich glaube, die ...«, fing Lars an, und Niko winkte ab: »Hör doch einfach zu, Lars! Wir kämpfen ja auch gegen Drachen und Orks und spielen den Teufelslord.«
Lars schwieg.
»Wie geht es denn weiter?«, sprach Niko Großvater Joe an.
»Die Geschichte ist wirklich wahr«, bestätigte Großvater Joe und las weiter: »Der Wind blies nun stürmisch und trieb Laub hinter Kaspar und seinen Freunden her, und Kaspar schien es plötzlich so, als ob der Wind eine Melodie mit sich tragen würde. Kaspar sah eine Gestalt, die über die Brüstung lugte und ihm zuwinkte. Kaspar wusste zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht, dass es der Zauberer war, der ihn da so freudig begrüßte. Plötzlich blieb Kaspar stehen. Er hörte eine zarte, weibliche Stimme, die seine Freunde nicht wahrnahmen. Sie flüsterte ihm zu: Die Begegnung mit dem weißmagischen Zauberer und dem König von Nebra steht dir und deinen Freunden eines Tages bevor. Doch zuerst müssen du und deine Freunde ein anderes Abenteuer bestehen. Folge den Spuren des Bären, um zu finden, was spätere Generationen von dir begehren.«
Niko schob sich einen weiteren Schokoladenriegel in den Mund.
»Man, schmatz nicht so laut!«, schimpfte Lars, und auch Juana blickte Niko angewidert an.
»Ihr stellt euch vielleicht an«, knurrte Niko.
»Was sollte Kaspar denn finden?«, fragte Sebastian.
»Wenn ihr wissen wollt, wie die Geschichte weitergeht, dann hört zu, Kinder«, sagte Großvater Joe und las weiter: »Dann erklang ein leiser Chorgesang, hinter ihnen im Wald. Ein schwerer Donner unterbrach die harmonische Melodie und der Gesang verstummte abrupt. Kaspar fasste den Entschluss, nicht nach Nebra zu gehen, sondern zurück in den Wald. Die Dunkelheit des Waldes verschluckte sie wie der Schlund eines riesigen Drachen. Noch bevor der weißmagische Zauberer Kaspar vor den dunklen Gestalten warnen konnte, waren Kaspar und seine Freunde im Wald verschwunden. Etwa vor vier Monden waren erste Gerüchte über die dunklen Gestalten aufgetaucht, die Reisende in den Wäldern auflauern sollten. Die unheimlichen Dunkel-Wesen, wie sie die Bewohner von Arasin nannten, seien wie Schatten – dunkler als die Nacht, mit langen Fingernägeln, so scharf wie die Schneidfläche einer Sense. Gegen dieses nächtliche Grauen konnte auch die Armee des Königs von Nebra nichts ausrichten. Und nun, da es langsam dunkel wurde, würde es nicht lange dauern, bis Kaspar und seine Freunde den Dunkel-Wesen in die Hände fallen würden.«
Großvater Joe blätterte eine Seite um und sah Sebastian an, dann wanderte sein Blick der Reihe nach umher. Keiner sagte ein Wort und so fuhr Großvater Joe fort: »Niemand reiste mehr gerne nach Sonnenuntergang durch den Wald, der früher einmal sicher gewesen war. Als Kaspar zurück blickte, huschte ein Schatten an einem Baum vorbei – das Laub wurde sofort welk und fiel zu Boden. Furcht befiel jetzt nicht nur Pepino, der eh immer etwas ängstlich war, sondern auch Kaspar, Leo und Jonna. Fast schon wollte Kaspar nach Arasin umkehren, da die Dämmerung ihnen langsam die Sicht nahm. Doch als in der Ferne ein brauner Bär zu sehen war, der zwischen zwei weißen Felsbrocken verschwand, beschloss Kaspar ihm zu folgen. Hinter ihnen tauchten in Scharen die geheimnisvollen Dunkel-Wesen auf, die mit ihren langen Fingernägel an den Baumrinden entlang schabten. Kaspar und seine Freunde rannten um ihr Leben, gejagt von den Dunkel-Wesen, die bestimmt keine guten Absichten verfolgten, denn jeder Baum, den sie berührten verlor auf der Stelle sein Laub. Kaspar und seine Freunde erreichten die beiden weißen Felsbrocken und aus der Höhle, die sich rechts in ein Felsmassiv bohrte, drang ein lautes Brummen heraus. Leo, der immer einen kleinen Rucksack mit allen möglichen Dingen bei sich trug, kramte eine Taschenlampe hervor und gab sie Kaspar, der in die Höhle hinein leuchtete und mutig vorausging. Kaspar wischte sich mit dem Handrücken die Wassertropfen aus dem Gesicht, die von der Decke fielen, und folgte dem Gang, an dessen glatten Wänden bunte Zeichnungen verschiedener bekannter und unbekannter Tierarten zu finden waren. Ein Bild fiel Kaspar ins Auge, das die Dunkel-Wesen vor einem Höhleneingang darstellte. Sie wurden durch ein grelles Licht vom Betreten der Höhle abgehalten. Und so war es auch, die Dunkel-Wesen versammelten sich vor dem Höhleneingang, jedoch folgten sie ihnen nicht. Als die Höhle sich in zwei Gänge aufteilte, folgte Kaspar dem Gang, in dem er ein sonderbares Schriftzeichen an der Höhlenwand entdeckte. Kaspars schmale Lippen verzogen sich zu einem freudigen Lächeln, als sie einen runden Höhlenraum betraten. Sechs brennende Fackeln leuchteten das Innere aus – Kaspar und seine Freunde rätselten, wer die Fackeln angezündet hatte – Freund oder Feind. Hier, in diesem Raum lag ein Geheimnis verborgen, davon war Kaspar fest überzeugt, als er von Fackel zu Fackel schritt, verfolgt von den Blicken seiner Freunde. Jonna entdeckte auf der Höhlenwand eine verblasste Zeichnung, die Kaspar an eine Kugel erinnerte. Als Kaspar die Hand auf das Bild legte, fiel in der Mitte der Höhle der Boden in sich zusammen und ein kleines Loch entstand, in dem eine eigroße, goldene Kugel lag, auf der sich die Lichtscheine der sechs Fackeln widerspiegelten und das Wort Feuerland in flammender Schrift zu lesen war. Als Kaspar die Kugel nahm,