Breathe. Elena MacKenzie
nur dieses breite Grinsen in seinem Gesicht. »Sie wäre die erste junge Wölfin seit sechzehn Jahren. Die Einzige, die jung genug wäre, um noch Kinder zu bekommen.«
»Die erste seit Ende des Kriegs.« Ich betrachte Raven, die sich noch immer von Sultan zurückhalten lässt. Sie wirkt ein wenig blass heute Morgen, sonst sieht man ihr die Wandlung nicht an. Wenn sie gebissen worden wäre, hätte die Wandlung durch das Gift fast sofort eingesetzt, deswegen überleben nur wenige Menschen. Das Gift hätte einen sauren, eitrigen Geruch verströmt, der aus jeder ihrer Poren gedrungen wäre. Es wäre mir unmöglich gewesen, es nicht zu bemerken. Der Gestank ist für Menschen nicht wahrzunehmen, aber für uns ist er das. Außerdem wäre sie längst tot. Weil der menschliche Körper nur selten die Gewalt einer Wandlung überlebt. Frauen überleben nie.
»Vielleicht wurde sie doch gebissen«, werfe ich trotzdem ein, obwohl ich weiß, wie absurd das ist. Ich ringe um eine Erklärung, denn Raven dürfte gar nicht existieren. Meine Mutter war eine der letzten auf diesem Kontinent und schon seit ein paar Jahren zu alt, um Kinder zu bekommen. Ich kenne nur noch Bobbys Frau, die schon weit über 100 Jahre alt ist. Die Vollblutwölfe sind schon seit einer Weile dazu verurteilt, auszusterben, weil wir keine Kinder mehr bekommen können ohne unsere Gefährtinnen. In ein paar Jahrzehnten, wenn die letzte Generation, zu der Sam und ich zählen, verstorben ist, wird es nur noch Gebissene geben.
»Hast du sie gebissen?«, hakt Will nach und zieht eine Braue hoch. Er drängt mich weiter auf den Sheriffwagen zu und bringt so mehr Abstand zwischen uns und Raven. Offensichtlich will er nicht, dass sie uns weiter zuhören kann.
»Habe ich nicht. Außerdem wäre sie dann schon tot.« Ich stoße ratlos die Luft aus. »Das hätte sie nicht überlebt. Manche Männer schaffen es. Aber Frauen? Du weißt selbst, dass das so gut wie nie vorkommt. Ich kenne keine einzige Frau, die das überlebt hat. Sie muss so geboren sein«, überlege ich, obwohl ich es selbst nicht glauben kann. »Vielleicht hat Sherwoods Ex geschafft, was wir immer für unmöglich gehalten haben«, spekuliere ich. Hinter meinen Schläfen hämmert es. Ich kann mich kaum konzentrieren, weil ich nur daran denken kann, Raven weg von Will zu bringen. Das Tier in mir zerrt an seinen Ketten und will Raven unbedingt beschützen. Dabei ist Will keine Gefahr für sie.
»Vielleicht hat er seine Frau gebissen und sie hat tatsächlich überlebt. Es soll schon passiert sein, dass eine menschliche Frau stark genug war. Und wenn sie stark genug war, den Biss zu überleben, dann vielleicht auch, um ein Kind zu bekommen.« Wills Zweifel ist deutlich in seiner Stimme zu hören. Will schüttelt entschieden den Kopf und sieht zu Raven, die sich mit einer Hand am Türrahmen festhält und winkt frustriert ab. »Warum interessiert uns das überhaupt, wie es dazu kam, dass die Frau dort eine Wölfin ist? Der Punkt ist, sie ist eine. Und du warst der einzige Wolf, der ihr nah genug kam, um die Wandlung auszulösen.«
Ich schüttle entschieden den Kopf und knurre Will an. »Ich war nicht der Einzige. Sam und du. Wir kommen alle infrage.«
Will knurrt zurück. »Keiner war ihr so nah wie du. Diese Sache musst du durchziehen. Allein. Sam ist zu jung und ich will damit nichts zu tun haben. Nie wieder«, fügt Will an und sieht mich ernst an. Will hat vor 16 Jahren im letzten Kampf seine Gefährtin verloren, seither ist er als Abtrünniger unterwegs. Er hat sich vom Rudel losgesagt, den Clan verlassen und alles, was unser Leben betrifft, hinter sich gelassen. Er hat es in der Nähe von Wölfen nicht mehr ausgehalten. »Du wirst dich darum kümmern müssen«, stößt Will aus und löst sich von mir in dem Augenblick, in dem Sam aus dem Wald tritt.
Ich starre ihn hilflos an. Wie kann er glauben, dass ich das schaffe? Ich hab es kaum bei Sam geschafft, zuzusehen, wie er um sein Überleben kämpft. Bei Raven kommt dazu, dass der Wolf in mir sich zu Raven hingezogen fühlt. Zumindest verstehe ich jetzt, warum ich ihr von Anfang an kaum widerstehen konnte. Warum mich alles zu ihr hingezogen hat. Mein Tier hat es schon vor Tagen gewusst, ich habe nur nicht zugehört.
Sam schlüpft in sein Shirt und mustert uns verwirrt, während er die Straße überquert. »Warum steht ihr hier draußen? Ist was passiert?«, will er wissen. Sein Blick geht von mir zu Will und vorsichtig zu Raven, die noch immer mit Sultan im Türrahmen steht und uns anstarrt, als wisse sie nicht, ob sie uns lieber zerreißen oder einen neuen Fluchtversuch wagen soll.
»Du kommst erstmal mit zu mir«, sagt Will knapp und wirft mir einen warnenden Blick zu, als ich protestierend Luft hole. Er umgreift meinen Oberarm, zieht mich ein Stück von Sam weg und sieht mich ernst an. »Du kannst Sam das nicht antun. Er hat zugesehen, wie seine Mutter umgebracht wurde. Willst du ihn jetzt zusehen lassen, wie diese Frau während ihrer Wandlung draufgeht? Er hat seinen Wolf nicht unter Kontrolle, weil seine Wandlung erst ein paar Monate her ist. Wenn er unter dem Stress zusammenbricht, wie willst du auf beide aufpassen?«, stößt er flüsternd aus.
Ich lache bitter auf. Sam hat seinen Wolf nicht unter Kontrolle, weil er ihn nicht akzeptiert. Deswegen hat er auch das Moonshine genommen. Ein weiterer Protest gegen Sherwood, mit dem er ihm zeigen wollte, wie wenig er in ihm seinen Vater sieht. Ein Protest, der so viel Schmerz ausgelöst hat und mich manchmal noch immer wütend auf ihn macht. Ich schiebe den Gedanken schnell von mir. Ich darf nicht vergessen, dass Sam noch ein Kind ist. Er hat einen Fehler begangen und wir alle haben bitter dafür bezahlt. Aber er ist auch mein Bruder.
»Was ist denn hier los?«, will Sam ungeduldig wissen.
Ich sehe Raven an, die versucht, sich an Sultan vorbeizuschieben. »Bleib!«, warne ich sie eindringlich und untermauere meinen Befehl mit einem dunklen Knurren. »Bei dir ist er nicht sicher genug«, werfe ich ein. Will lebt in einer Kleinstadt etwa 30 Meilen von hier. Sherwoods Jäger kennen seinen Wohnort, weil sie ihn, wie alle Abtrünnigen, regelmäßig kontrollieren.
»Ich will wissen, was hier los ist«, verlangt auch Raven harsch.
»Ich erklär dir gleich alles«, antworte ich ihr und wende mich Sam zu. Ich ignoriere das sich wild aufbäumende Monster in mir, das immer lauter tobt, je länger der Sheriff sich in Ravens Nähe aufhält. »Will hat recht, du gehst besser mit ihm. Die nächsten Tage willst du nicht hier sein.«
Sam schnappt nach Luft. »Aber was ist denn los?« Er versteht es genauso wenig wie ich. Das hier ist für uns völlig neu. Und trotzdem muss ich mich dem stellen, denn was Raven gerade passiert, ist meine Schuld. Und wenn keiner von uns sich dem stellt, dann sind ihre Überlebenschancen bei null. Ich muss es also versuchen.
»Ich erklär dir alles«, sagt Will. »Verschwinden wir hier«, knurrt er Sam an und öffnet die Tür des Autos für meinen Bruder. »Mach dir keine Sorgen um ihn, ich verstecke ihn, bis du diese Sache hier hinter dich gebracht hast.«
Die Sonne brennt heiß auf mein Gesicht und blendet mich, weswegen ich die beiden Männer nur schemenhaft sehen kann. Aber an den wütenden Worten, die sie sich zubrüllen, erkenne ich, dass sich ihr Streit um mich dreht. Nur verstehe ich nicht, was sie sagen. Ich höre die Worte, jede geknurrte Silbe, aber ich verstehe ihren Inhalt nicht. Wandlung? Wölfin? Geboren? Gebissen? Worüber reden sie da? Ich reibe mir über die hämmernde Stirn und versuche, den Schwindel in meinem Kopf durch bloßes Blinzeln zu bekämpfen. Aber er lässt sich nicht vertreiben. Genauso wenig wie der Schweiß, der mir aus sämtlichen Poren dringt. Es sind nur wenige Minuten vergangen, aber ich fühle mich noch deutlich schlechter als vor dem Frühstück. Das letzte Mal habe ich mich so gefühlt, als ich eine Lungenentzündung hatte und Doktor Irvine mich für ein paar Tage in einem der Betten in seiner Praxis behalten hatte. Die Praxis von Doc Irvine war das, was einer Klinik in Black Falls am nächsten kam. Das nächste Krankenhaus war über eine Stunde entfernt. Wenn ich nur krank genug bin, wird Ice mich dann zu einem Arzt bringen? Wahrscheinlich habe ich nur eine Sommergrippe, aber er müsste doch dafür sorgen, dass ich Hilfe bekomme.
Ich schiebe meine Hand in Sultans Fell, als könnte er mir Kraft spenden. Aber das kann er natürlich nicht, weswegen ich mich mit der anderen Hand am Türrahmen festhalte. Wahrscheinlich sollte ich mich drinnen auf das Sofa setzen. Noch besser sollte ich verlangen, dass Ice mich zu einem Arzt fährt. Und wenn ich reingehe, könnte ich meine einzige Chance zur Flucht verpassen. Die beiden sind so versunken in ihrem Gespräch,