GLOVICO. Ekkehard Wolf
sich inzwischen der geklonten Startseiten kleiner Unternehmen und Organisationen, die selten abgerufen werden. Die Täter funktionieren diese Startseite zu Multifunktionstrojanern um. Die umfunktionierte Plattform dient dabei als Köder. Der Klon wird bei Bedarf gegen die Originalversion ausgetauscht. Zahlreiche, in der Originalversion vorhandene Links sind dann mit Fähigkeiten ausgestattet, die den Apparat zu einem hochgefährlichen Instrument machen. Erst in letzter Zeit wurden die modifizierten Klone wiederholt an die Stelle der Originalseiten gestellt. Deren Konstrukteure nutzen diese als Testplattform für ihre experimentellen Modifikationen. Von der Struktur verfügen die Tools damit zeitweilig über die Fähigkeit, zentrale Funktionen geläufiger Betriebssysteme außer Kraft zu setzen und einer anderen Verwendung zuzuführen. Unklar ist allerdings noch, welches Ziel die Betreiber damit letztendlich verfolgen. Wirklich Sinn machen würde das Spielchen eigentlich nur dann, wenn es gelingen könnte, den gesamten Apparat in fremde Netzwerke zu integrieren um deren Datensätze zu infiltrieren und umzulenken oder auch zu blockieren. Soweit wir das beurteilen können, haben sie ihre Fähigkeiten wie gesagt bisher nur bei kleineren, wenig gesicherten Netzen zur Probe laufen lassen. Aber ich bin mir da nicht sicher. In jedem Fall hat sich aus unserer Sicht eindeutig bestätigt, dass die Gruppierung kriminelle Absichten verfolgt. Noch immer völlig unklar ist, wer diese Leute sind. Die Steuerung der Zugriffe erfolgt stets über WWW-Adressen, die von wechselnden Servern bedient werden. Die gewonnenen Daten werden auf Servern zwischengespeichert, die für Arbeitsgruppen eingerichtet worden sind, die zeitversetzt an bestimmten Projekten arbeiten müssen. Besonders beliebt zu sein scheint der BSCW-Server in Paderborn. Von dort werden die Daten von verschiedenen Interessenten mit Zugangsberechtigung abgerufen. Der direkte Kontakt zwischen den Beteiligten erfolgt über kurzfristige e-Mail Adressen, die vermutlich in Internetcafes eingerichtet und nur einmal zu diesem Zweck genutzt werden. Es ist uns bisher nicht gelungen, da näher ran zu kommen.“
Agnieszka Malik hatte diese Erkenntnisse mit der ihr eigenen ruhigen Stimme vorgetragen.
Sie lehnte sich jetzt einen Augenblick zurück und fuhr nach dieser Kunstpause fort: „Was die Sache ein wenig problematisch macht, ist aber vor allem, das die Herrschaften, die da die Fäden ziehen, das Gefühl zu haben scheinen, dass wir ihnen auf die Finger schauen. Was mich irritiert ist, dass sie ihre Aktivitäten seither nicht einschränken, sondern offenkundig intensiv damit beschäftigt sind, herauszufinden, wer ihnen da in die Karten schaut. Ich mag nicht ausschließen, dass sie fündig geworden sind.“
Bei diesen Worten blickte die polnische Ermittlerin erneut prüfend in die Runde und ließ den Inhalt ihrer Bemerkung erst einmal seine Wirkung entfalten. „Willst du damit sagen, die haben es auf uns abgesehen,“ fragte als Erster der sichtlich überraschte Franzose.
Die Polin nickte zustimmend: „Genau davon müssen wir wohl ausgehen.“
„Wie kommen Sie darauf, und wer sind die,“ erkundigte sich der Deutsche, der nicht ungern die Gelegenheit nutzte, mit der etwa zehn Jahre jüngeren Frau ins Gespräch zu kommen.
Zugleich bemerkte er, wie die Dunkelhaarige dem Briten einen kurzen fragenden Blick zuwarf.
Erst auf sein Nicken hin entschloss sie sich weiter zu sprechen.
„Wir haben bei uns vor wenigen Wochen einen unschönen Vorfall gehabt,“ setzte die Frau nach leichtem Zögern wieder ein.
Der „Vorfall“, von dem Agnieszka Malik berichtete, hatte sich am 24. Mai ereignet. Fast zeitgleich waren ihr eigener Wagen und der von zwei weiteren Kollegen, die ebenfalls mit der Sache vertraut waren, in schwere Verkehrsunfälle verwickelt worden. Ihr engster Mitarbeiter hatte diesen Anschlag nicht überlebt. Dessen Mitfahrer hatte so schwere Kopfverletzungen erlitten, dass er bisher nicht wieder zu Bewusstsein gekommen ist. Ein schwer alkoholisierter LKW-Fahrer war mit seinem Zwölftonner praktisch ungebremst auf den PKW ihrer Kollegen aufgefahren und hatte deren Fahrzeug unter sich begraben. Sie selbst hatte dem gleichen Schicksal am gleichen Tag nur dadurch entgehen können, dass ihr Mann die Gefahr des von hinten nahenden Lasters rechtzeitiger erkannt hatte und der Kollision durch einen geistesgegenwärtigen Tritt auf das Gaspedal ausgewichen war. Der LKW war darauf in das nächste Fahrzeug gerast. Dessen Insassen hatten ebenfalls nicht überlebt. Ein nachfolgender PKW-Fahrer hatte es nur durch ein blitzartiges Ausweichmanöver geschafft, dem Aufprall auf den zum Halten kommenden Lastwagen zu entgehen. Dafür war er auf den Wagen ihres Mannes gekracht, der keine weitere Möglichkeit zum Ausweichen mehr gehabt hatte.
„Wir haben einfach Glück gehabt,“ fasste die Polin das Geschehene zusammen.
„Und das kann keine unglückliche Verkettung von Zufällen gewesen sein,“ erkundigte sich der Deutsche.
„Wir haben das selbstverständlich in Betracht gezogen,“ entgegnete die Frau, „aber wir halten das für äußerst unwahrscheinlich. In beiden Fällen waren die LKW-Fahrer derartig betrunken, dass sie zu keiner Reaktion mehr fähig waren. Beide haben nach ihrer Ausnüchterung ausgesagt, dass sie sich in überhaupt keiner Weise erinnern können, wann sie den Alkohol zu sich genommen haben könnten. Bei beiden handelte es sich um Berufskraftfahrer.
Der eine hat zugegeben, dass er am Abend zuvor mit einer Frau zusammen war, die ihn in einer Kneipe angebaggert hatte. Er hatte die Frau zuvor noch nie gesehen. Sie waren zusammen in ihr Auto gestiegen. Was danach war, konnte er nicht mehr sagen. Vermutlich wurden ihm bereits in der Kneipe KO Tropfen ins Getränk geflößt.
Der andere Fahrer war am Vortag nach eigenem Bekunden bereits frühzeitig nach hause gegangen. Dort hatte er die beiden Flaschen Bier getrunken, die noch im Kühlschrank waren. Auch er konnte sich danach an nichts mehr erinnern.
Als wir die Wohnung durchsucht haben, sind wir auf Duzende von leeren Bierflaschen gestoßen. Auf allen Flaschen waren zwar die Fingerabdrücke des Fahrers. Er beteuert allerdings, dass er die Kiste nicht gekauft habe.
Für seine Version spricht, dass sich auch das Verkaufspersonal des Getränkemarktes, bei dem er regelmäßig sein Bier kauft, nicht daran erinnern kann, dass der Unfallverursacher jemals Bier in Kisten gekauft hat.
Eine genauere Überprüfung hatte allerdings ergeben, dass die Kisten selbst von der Brauerei an diesen Getränkemarkt geliefert worden waren und auch dort verkauft worden sind.
„Wer der Käufer war, ließ sich nicht mehr rekonstruieren,“ betonte die Polin mit ruhiger Stimme.
In dem Moment der Stille, der auf diese Mitteilung folgte, schlugen draußen die Hunde an.
Eine schöne Aussicht auf den Fluss Moskwa
Eine schöne Aussicht auf den Fluss Moskwa und den Gorki-Park hatte etwa zur gleichen Zeit von einem Büro im fünften Stock des russischen Generalstabs der ukrainische Generalmajor Nikolaj Jurkow. Er war unmittelbar nach seiner Beförderung vor wenigen Monaten wieder an den Ort zurückgekehrt war, an dem er als junger Offizier zu Sowjetzeiten bereits einmal seinen Dienst versehen hatte. Offiziell war er jetzt als Beobachter seines Landes im Auftrag der OSZE in Moskau.
Sein Blick fiel auch an diesem Septembertag wie fast immer auf die Restaurantboote, die seit Jahren das Ufer vor seinem Dienstsitz schmückten.
Unwillkürlich musste er an den alten Witz denken, den ihm sein deutscher Bekannter erzählt hatte, der ihm in der Vergangenheit so manche Überraschung bereitet hatte.
„Ist dir da draußen nie etwas aufgefallen,“ hatte ihn dieser spitzbübisch gefragt, als sie vor Jahren nach einer feuchtfröhlichen Nacht beim Ausnüchterungsspaziergang am Rande des Parks gegenüber dem Generalsstabsgebäude kurz vor der BURAN eine kurze Rast einlegten.
„Was sollte mir auffallen,“ hatte der zurück gefragt. „Sieh’, da vor uns liegt ganz links ein Boot mit einem amerikanischen Restaurant, daneben eines der Franzosen. Ganz rechts eines der Japaner. Zwischen dem Franzosen und dem Japaner sind die Engländer vor Anker gegangen,“ hatte Kriminalrat Günther Rogge ihn aufgeklärt.
„Ja, und wo ist die Pointe,“ hatte der Sowjetbürger gefragt.
„Hast