Halbzeitland. Gordon Müllenbach
klirrt. Dämpfe steigen aus den Pötten, quellen durch die Herdnischen und die Spülmaschinen laufen mit rotierendem Sprühgeräusch. Doch auch bei dem fortwährenden Betrieb in der Kantine des Cafés wird Öjwind nicht gebraucht,
Die Küche ist offensichtlich voll ausgelastet!
Öjwind, an der offenen Küchentür, löst sich von dem gastronomischen Spektakel,
Gegenwärtig droht kein Verhängnis, wenn wir an das Hoftor schlagen.
Gegenüber, in der Mauer, realisiert Öjwind ausgestoßene Steine, welche in einem großen Stahlcontainer aufgetürmt liegen, Schutt und Raum geben für ein komplettes Hoftor,
Kann ein Schmetterling mit seinem Flattern das Wetter der ganzen Erde beeinflussen? - aber wir sind offensichtlich nicht so chaotisch wie die Frühlingsboten mit ihren Stürmen!
Er geht zu dem Durchbruch und aus dem Steingarten, passiert den schuttgefüllten Container,
Wenn ich momentan nicht gebraucht werde, und auch nicht volontär, dann passiert der Tag, wenn, geschieht das Gegebene ereignisreich.
Öjwind fühlt die dorrenden Zenite, welche seit Urgedenken die Menschheit auszutrocknen suchen. Er glaubt,
Jetzt wird es Nachmittag, ich will an den Fluss gehen.
Öjwind biegt in den nächsten Straßeneingang, in welchem ihm unvermittelt eine Karnevalsmusik entgegen trommelt, die von weit aus dem Ende der Häuserschluchten heranschallt, und erreicht einen Umzug, als dieser in einer Nebenallee verschwindet, sieht schon einen der letzten Wägen, auf dessen Ladefläche eingespielt und schwarzvermummt Kostümierte unter Plastikplanen eine freie und unkomponierte Improvisation hervorjamen. Ein Mädchen an einem Megaphon zitiert Texte, welche sich Öjwind nicht gleich erschließen, und verkündet unentwegt die Namen von Feier- und Festtagen, welche, teils vorbei sind, teils, das Jahr über, noch gar nicht stattgefunden haben.
Sie beschließt ausdauernd, bei jedem erwähnten Feiertag zu sagen, dass dieser heute ausgerechnet wirklich nicht sei, und rezitiert erneut einen Festtagsnamen.
Die Jamenden intonieren ein festes Thema, welches sie repetieren und wippen mit ihren vermummten Körpern, von denen Öjwind nur die Augen sehen kann.
Die Sängerin psalmodiert, „Wegen der Wiedervereinigung vielleicht?“
Öjwind bemerkt eine Hundertschaft Beamteter mit Schlagstöcken und Großkalibrigem an den Gürteln, die, gezogenen Helms unter dem Arm, dem Wagen in scheinbar vorgeschriebenem Abstand hinterherzutrotten scheinen.
Der Jazzrock vom Planwagen wogt weiter.
„Nein!“, spricht das Mädchen in das Megaphon, „Auch nicht wegen des Führergeburtstags!“
Vielleicht Frühlingsbeginn!?
mutmaßt Öjwind.
„Kann ja wegen des Welt-Aids-Tages sein.“, vermutet sie singend.
Öjwind hört die Parola des Tages an ihm vorbeiziehen,
Weswegen eigentlich jetzt? - ich habe keinen Kalender zugegen!
Er läuft zügig an dem Umzug entlang zur Spitze und sucht an der Front eine Avantgarde mit beschriftetem Plakat zu erspähen, welches darüber Aufschluss geben kann. Doch, auch dort sind nur Wägen, aus welchen Musik und Rhetorik hervorbrechen. Von einem berichtet eine Stimme den Zuhörenden,
„…und des Krieg` sie essen, des Mut` sie stehlen. Der Polizeistaat und die Logik des Kapitals manifestieren weiterhin Unterdrückung und Ausbeutung!“
Die helle Stimme erklingt Öjwind eindeutig jünger, als die eines Erwachsenen, und er versucht zu sehen, wer spricht, aber auf dem Wagen, dessen Ladeflächen und Wandplanen komplett mit Zeitungen collagiert sind, kann er niemanden entdecken.
„Die Globalisierung bricht nicht mit den Grenzen alter, imperialer Strukturen. Die freie Migration hat die Monopole der Koexistenz von Privilegierten und Eliten, Etablierten und Vorrechtlern zu assimilieren. Statt traumatisierender Flüchterei - wirkliche Reisefreiheit für alle.“,
ruft die Stimme den Anwesenden zu,
„Wir haben uns in die Produktionsverhältnisse der Weltrevolution zu integrieren und mit der arbeitenden Bevölkerung zu solidarisieren. Der intellektuelle Staat verbrüdert sich gegenwärtig, doch nur mit der Vergangenheit, das Volk artikuliert seine Meinung, eh nur auf dem Fußballplatz. Ansonsten horten die kapital-dynamischen Klassen weiter, denn sie reich genug sind sich bedienen zu lassen. Das ist die Koexistenz der zufriedenen Herren, der zornigen Männer und grauen Eminenzen. Sammeln statt handeln! Scheren statt Akten! Archivieren statt machen! Bürokratien haben keine Hautfarbe, Parteien keine Konfession, Weltkultur muss nicht alteuropäisch sein, Lebensfreude kennt keine Historie!“,
erklingt die Stimme aus dem bedacht dahinziehenden Wagen. Öjwind weiß nicht weiter,
Das ist hier zu ergreifend!
Auf einem Transparent leuchtet ein Symbol, Öjwind merkt auf,
Zwei Männer oder ein Wesen mit, letztmöglich, einem Paar Frauenköpfen, hm? - ein siamesisches Krokodil, das in einem roten Fluss schwimmt, oder Geldeintreiberinnen mit Baseballkeulen vor kryptischen Bunkerrunen, keine Ahnung?!
Öjwind schwenkt in einen kleinen Park, der ihn rettend mit einem Sandweg einlädt, und setzt sich auf eine verwitterte Holzbank, fühlt sich wie betulich erwacht, auf dem Schloss einer totalitär mystagogischen Halbgottheit, die dem Volk Demokratie gewähren will, während die Sambatrommeln des Umzugs allmählich verklingen, und im Park bunt Jogger und Joggerinnen Runde um Runde zu drehen beginnen, die reihenweise und sich unterhaltend an Öjwind entlang laufen, sich in die hinteren Gehwege des Parks entfernen und, ihrer scheinbar immer neuformierend, zurückkehren
Ein eindeutig älterer Mann setzt sich neben Öjwind und knistert bedeutungsvoll mit einer Plastiktüte, aus welcher er eine Dose hervorzieht, faltet die Tüte vorsichtig und legt diese knisternd auf die Bank.
Eine bunte Gruppierung Joggende trabt heran. Öjwind erzittert an der beginnenden Abendkühle.
Die Dose öffnet sich geräuschvoll.
Öjwind steht auf und beschließt, zu Aris Imbiss zu gehen,
Der Tag ist gelaufen, passiert sozusagen, vielleicht kann ich bei Ari jedenfalls ruhig nachdenken.
Auf dem Weg begegnet Öjwind einem ihm vertraut erscheinenden Menschen, der vor den Ruinen eines Hauses steht und eine Reihe von Weichplastik- und Wachs-Ohrstöpseln in den Händen hält, welche er sich aus den Ohren gezogen zu haben scheint.
Noch versenkt von der Abwägung, statt Aris Imbiss, lieber den Einkaufsladen an der Ecke aufzusuchen, überlegt Öjwind nun,
Ob vor oder hinter ihm entlang? - oftmals entscheiden solche Feinheiten über das Gelingen einer Begegnung.
Öjwind erscheint das von außerordentlicher Wichtigkeit. Rastlos im Abwägen nähert er sich dem Menschen auf einigen Schritten, als der ihn unvermittelt anblickt. Öjwind hält es augenblicklich für ratreich, einen
Guten Abend!
zu wünschen, um der Höflichkeit der Begegnung zu entsprechen. Die Entgegnung stellt sich als eine günstige heraus, auch wenn Öjwind, und zu dem Abend überhaupt, kein weiterer guter Gedanke einfällt. Jener entgegnet ihm nicht und hinterlässt Öjwind die Befremdung, gegrüßt zu haben.
Nach verlegenem Weitergehen, als Öjwind vor Aris Imbiss Halt macht, streift ihn eine Ahnung. Er tritt ein und bestellt,
Einen Tee und Pommes zum Mitnehmen, bitte!
und beginnt, Ari bei der Arbeit zuzusehen.
Ari vollzieht einen Turnus schneller, geübter Griffe, geht