Halbzeitland. Gordon Müllenbach
zweier Mädchen, die offenbar kichernd ihre ersten Zigaretten rauchen und eines alten Mannes, der stoisch über einer Flasche Bier in eine Zeitung blickt, leer. Ari dreht sich um und ruft die albernden Mädchen zu sich, die schnell die Zigaretten ausmachen und schüchtern an den Tresen treten, gibt ihnen deren Bestellung, kassiert und dreht sich wieder an den Herd, als die Mädchen den Imbiss lachend verlassen.
Öjwind bemerkt die Regale, welche unterhalb der Decke angebracht sind, in denen zerlesene Buchexemplare, große Bildbände und Romane stehen. Er zögert und fragt,
Ob ich mir die Bücher ́mal ansehen und in das eine oder andere hineinlesen darf?
Ari wendet sich um, kommt hinter der Theke hervor und geht mit Öjwind zusammen zu den Regalen, fordert ihn auf, sich die Bücher anzusehen und, wenn Öjwind Geduld habe, darin zu lesen.
„Dafür stehen sie ja hier,“, sagt Ari, „auch wenn selten ein Gast, hinter der scheinbaren Zier, den Wert anerkennt.“
Öjwind dankt und fängt an, die Buchrücken zu studieren und entdeckt einen Bildband über Pablo Picasso, welchen er herauszieht.
Das Buch zeigt eine Ausstellung des Künstlers in dessen Heimatstadt. Angeregt blättert er in einem Band, welcher Skulpturen zeigt, und verharrt über einer Abbildung, die ein auf langstieligen Beinen stehendes, in Gold gegossenes Pferd darstellt.
Von dem Nachbartisch ertönt eine Stimme zu Öjwind herüber, „Sehen Sie, ich bin Arzt in einem Krankenhaus. Ich schneid` die Leute auf, hol` etwas aus ihnen hervor oder pack` etwas and`res hinein, - und dann näh` ich sie wieder zu. Feierabends sitz` ich hier gelegentlich und trink` Kaffee oder rauch` eine Pfeife. - Was gibt ´s denn noch zu erzählen? Wir haben die Schwerkraft. Eine Tasse fällt auf den Boden, auch wenn Sie auf dem Kopf stehen, und falls Sie Ihren Finger zwischen die Tür legen, tut der Finger weh.“
Er trinkt einen Schluck, und bevor Öjwind etwas erwidern kann, sagt er, „Eine Kette ist immer so stark wie das schwächste Glied.“
Öjwind schaudert, er will der Stärkste, der Erste und der Schönste sein.
„Gucken Sie sich die Leute, gegenwärtig, trotzdem genau an. Die laufen ein Leben lang wie die Hamster in den Käfigen und sind blind wie die Schleichen, können sich nicht mehr an die Augenfarbe ihrer Ehefrau oder ihres Ehemannes erinnern noch wissen sie von der Maserung auf der Tapete zu Haus. Das ist doch die Wirklichkeit, oder?!“
Ihm geht die Pfeife aus, und er beginnt diese nachzustopfen. Öjwind schweigt, während der Alte nochmals murmelnd sagt, „So ist doch die Realität.“, seine Zeitung aufnimmt und sich darin vertieft.
Ari ruft von seinem Tresen, ob Öjwind hier oder außer Haus essen wolle? Öjwind steht am Tisch des Arztes auf, wünscht einen,
Schönen Abend noch,
und geht zu dem Tresen,
Zum Mitnehmen, bitte!
Ari packt die Bestellung in Zeitungspapier ein und überreicht sie Öjwind.
Draußen erblickt er den pressanten, immer noch vor den Ruinen des verfallenen Hauses sich aufstellenden Herrn auf der anderen Straßenseite, geht hinüber und fragt ihn mutig nach seinem Befinden. Der glotzt, als ob er knurren wolle, Öjwind an und winkt nach dem Paket, der es ihm nun, unüberlegt und widerstrebend hinhält, entreißt es Öjwind und knurrt ihn so laut an, dass Öjwind davonläuft.
Außer Atem erreicht Öjwind die Eingangstür seiner Mietskaserne.
Fußball spielen wird´s gewesen sein,
erinnert Öjwind, als er durch die Eingangstür hineintritt und an den Zeitungen, dem Zeichen und der kleinen Treppe hinunter zum Hof vorbei ist, in dem die Kinder auf ihrer Rasenhälfte wieder Tor spielen,
In die Wohnung gekommen, zündet Öjwind eine achte Kerze an. Gleichgültigkeit durchzuckt ihm neuralgisch die Schlüsselbeine,
Woandershin hab` ich den Horror, aber ewiglich den Koffer auf das Bett werfen und Für-die-Reise-Packen spielen?
Die Nachbarn rufen sofort, „Feuer!“, als Öjwind bei noch offener Wohnungstür einige Zettel in einer ofenfesten Glasschale verbrennt. Aber er kann die aufgeregte Nachbarfamilie wieder beruhigen.
Nachts hat Öjwind einen Traum.
Ein metallenes Pferd fängt an, ihn stetig zu einem Baum der Erkenntnis zu tragen, welcher sich vielzweigig vor ihm auftut, von Kether bis Malkuth.
Er konzentriert sich und balanciert die Bedeutungen der verschiedenen Stationen aus. Als er für jeden der Punkte eine Vorstellung entwickelt, verschwindet das Bild.
Öjwind sitzt im Imbiss.
Das Licht hat sich verändert und scheint nur noch aus Farben zu bestehen und Öjwind sieht eine Gestalt hereinkommen, die er sehr gut kennt, ihr Gesicht ist fohlenhaft und mit langem, rotem Haar, das als Zopf aus dem Hinterkopf wächst. Ein glühendes Horn steht auf der Stirn. Die Schultern sind mit einem in divers gelben Mustern gefärbten Tuch bedeckt, der Kopf mit einer alltäglich anmutenden Bedeckung, wie Öjwind diese nur aus Nepal kennt.
Ari Hekmek ist auch verwandelt, ist preußisch blauer Körper in flimmernder Bewegung und garnelengleich, mit Rüssel und Fühlern, die ihm aus dem Kopf gewachsen scheinen.
„Sie wünschen?“, schnaubelt Ari Hekmek hinter dem Tresen.
Das Einhorn bestellt aus dem Gedächtnis, „Zweimal Paranoia mit Orientierungslosigkeit, dazu eine schöne Ladung Selbsterkenntnis! Und die Rechnung ohne die Wirtin, bitte!“
Ari Hekmek wendet sich um und geht flink zu Werke.
Von hinten nähert sich ein alter Mann dem Tresen, wie eine Schildkröte streckt er den Hals hervor. Sein Kopf scheint zu qualmen, jedenfalls ist alles schwadenerfüllt,
„Erdnusscreme, bitte.“, sagt die Schildkröte und schlackert mit den Halsfalten.
„Sie sollen doch nicht so viel davon speisen.“, ermahnt Ari Hekmek ihn.
„Erdnusscreme, bitte.“, sagt die Schildkröte erneut, blickt zu dem einhornigen Wesen und sagt, „Der beste Stoff, der zurzeit auf dem Markt ist.“
Ari Hekmek kommt aus der Küche hervor und bringt der Schildkröte eine Portion Erdnusscreme, mit welcher sie an ihren Tisch zurückkehrt. Ein genüssliches Stöhnen hallt durch den Laden, als sie davon kostet.
„Sie sitzt bei mir, Stunden! An einer Portion Erdnusscreme.“, sagt Ari Hekmek.
Das Einhorn wendet sich Richtung Öjwind und wünscht einen, „Guten Abend!“, ein grünlicher Schatten reflektiert auf in gelben Farben gemustertem Tuch.
Öjwind, am Glück entdeckt, antwortet nicht und ringt nach Luft, ist fast so beklemmt, dass er sich nicht traut, die Stimme zu erheben oder gar an sich herunterzusehen.
Das Einhorn tritt an ihn heran, immer näher kommt dessen glühendes Horn. Öjwind, den mit einmal wohlig warm und lichthell Kraft durchströmt, findet sich zu seiner Surprise vor dem alten Mann mit der Zeitung stehend wieder.
Übertyre durch das Oberstübchen
Eine Mitarbeiterin von der Nachbardiakonie ein Haus weiter kommt zu Besuch in die Redaktion, „Das Kreuz ist jedoch aus ganz schlichtem Holz: Natur und ohne Leiche.“, bekräftigt die, „Das mag doch jedermann sehen, ein derart gutes Symbol.“, und so lehnt das naturfarbene Gestell halb an der Wand, die noch kein kommensurables Pendant hat, „Ich bin nicht in Gänze fertig geworden, das große Kreuz direkt neben dem Hauptcomputer an der Wand zu befestigen. Aber das macht ja nichts. Ich komme gleich nochmal wieder.