Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen. Tobias Fischer

Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen - Tobias Fischer


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Jane überrascht war, wie normal und vertraut sie doch wirkte. Alte Gebäude vorangegangener Jahrhunderte standen hier neben Wohnhäusern, wie man sie überall in Europa finden konnte. Manchmal, wenn sie die hohen Wände mit ihren glatten Fassaden und den großzügigen Fenstern betrachtete, war sie sich sogar nicht einmal sicher, ob sie sich nicht doch noch in Frankreich oder Deutschland befanden.

      »Gut, hier machen wir Rast. Das Hotel ›Goldene Krone‹ sollte Euch die notwendigen Annehmlichkeiten bieten. Anschließend nehmen wir die Straße zum Tihuta-Pass, unserem Ziel«, entschied Miss Davis. Sie berührte Radu am Arm. Zum allerersten Mal drehte ihr stummer Fahrer den Kopf und schaute seine Gebieterin an.

      »Auch du darfst rasten und dich stärken. In einer Stunde geht es weiter«, sagte sie.

      Radu nickte gehorsam, dann parkte er den Lastwagen und stieg aus. Jane, Veyron und Miss Davis folgten ihm.

      Im Hotel angekommen verschwand Veyrons attraktive Klientin auf einem Zimmer. Veyron und Jane besuchten derweil das Restaurant und bestellten sich ein kräftiges Mittagessen.

      »Wie viele Touristen es hier gibt«, bemerkte sie beeindruckt und nickte in Richtung einer Gruppe junger Leute, die eifrig ein Selfie nach dem anderen machten. Sie entdeckte noch weitere Reisegruppen, darunter auch einige Goths mit blass geschminkten Gesichtern und dunklen, aber aufwendig gestalteten Gewändern. Allen Leuten gemein war die sichtliche Begeisterung.

      »Ist Ihnen bewusst, wo wir uns befinden?«, fragte Veyron sie einen Moment später.

      »Irgendwo in Rumänien«, antwortete sie und schämte sich sofort. Mit Veyrons universellem Wissensschatz konnte sie nicht mithalten. Sie musste zugeben, dass sie von der Welt außerhalb Englands herzlich wenig wusste. Gewiss hielt er sie jetzt für eine ungebildete, oberflächliche Person – dabei war Jane durchaus wissbegierig, nur hatte sie sich noch nie so recht mit Geografie und Geschichte beschäftigt. Ich muss das ändern, nahm sie sich vor.

      »Wir sind mitten in Siebenbürgen, das auch als Transsylvanien bekannt ist, der Heimat von Graf Dracula. Bistritz war in jenem Roman der Ausgangspunkt des Abenteuers. Unser Zielort, der Tihuta-Pass, ist auch als der Borgo-Pass bekannt, wo sich dem Roman nach das Schloss Draculas befand. Wir wandeln sozusagen auf den Spuren des Vampirfürsten – genau wie diese ganzen neugierigen Touristen«, erklärte er.

      Jane schluckte. »Sorry, das wusste ich nicht.«

      »Sie brauchen sich dafür nicht zu entschuldigen, Willkins. Ich frage mich schon die ganze Zeit, was wohl die Motivation Bram Stokers gewesen sein mag, die Handlung nach Transsylvanien zu verlegen. Der echte Graf Dracula, also der Fürst Vlad III. Drăculea, genannt ›der Pfähler‹, herrschte über die Walachei im Süden Rumäniens. Zweifellos war Stoker dieser Fakt bekannt. Dennoch machte er die Kunstfigur Dracula zu einem Tyrannen Transsylvaniens.« Nachdenklich rieb Veyron das Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Wenn wir davon ausgehen, dass sich irgendwo am Tihuta-Pass ein Durchgang nach Elderwelt befindet, unbewacht vom Zaubererorden der Simanui und unter Kontrolle der Seelenkönigin, könnte es sein, dass so mancher Spuk von dort in unsere Welt kam. Dieser Besuch mag sich in Form von Legenden und Mythen über die Jahrhunderte erhalten haben. Vielleicht war es das, was Stoker so sehr an Transsylvanien reizte«, mutmaßte er.

      Diese düsteren Enthüllungen beschäftigten Jane noch eine ganze Weile. Mehr und mehr war sie davon überzeugt, dass Tom recht daran getan hatte, sich diesem Abenteuer zu verweigern. Doch sie würde jetzt nicht kneifen und umkehren. So verrückt Veyron auch sein mochte und so gefährlich seine Unternehmungen, so wusste er doch eigentlich stets, worauf er sich einließ.

      Wenig später kehrte Miss Davis mit einem sichtlich gestärkten Radu zurück. »Es geht weiter«, ließ sie Veyron und Jane wissen.

      Sie zahlten die Rechnung und gingen ihrer Auftraggeberin nach draußen hinterher.

      Mit dem Truck folgten sie eine gute Stunde lang der Straße. Bald ließen sie die Stadt und einige angrenzende Ortschaften hinter sich. Wenn ihnen jetzt noch ein wenig Zivilisation begegnete, dann in Form vereinzelter Bauernhäuser oder entgegenkommender Fahrzeuge. Jane fielen einige Viehweiden zwischen der Straße und den endlos erscheinenden Wäldern auf. Ebenso die Heuhaufen in der hierzulande typischen Form aufrechter Tannenzapfen. Schließlich hielt Radu auf einem gekiesten Rastplatz, wo er den Motor abschaltete.

      »Wir sind da«, sagte Miss Davis vergnügt, als sie die Tür öffnete.

      Veyron und Jane schulterten ihre Rucksäcke und folgten der jungen Frau hinaus ins Grüne. Radu blieb regungslos hinter dem Steuer sitzen.

      »Was passiert jetzt mit ihm?«, fragte Jane die Hexe, nachdem sie sich schon einige Meter von der Straße entfernt hatten.

      »Ich werde ihn freigeben, sobald wir diese Welt verlassen haben. Er wird sich an nichts mehr erinnern«, erklärte sie kalt.

      Jane schüttelte den Kopf. »Können Sie ihm nicht eine schöne Erinnerung geben oder irgendetwas anderes, damit er sich nicht wie ein Geisteskranker vorkommt, wenn er wieder er selbst ist?«

      Miss Davis verzog verständnislos das Gesicht. »Wozu sollte das gut sein? Er ist ein Sklave wie jeder andere auch. Was interessiert mich sein Wohlbefinden, wenn ich keine Verwendung mehr für ihn habe? Er soll froh sein, dass ich ihn nicht töte.«

      Jane sagte darauf nichts mehr. Tom hatte absolut recht, dachte sie finster. Sie fragte sich, welcher Teufel Veyron nur geritten hatte, einen Auftrag von so einer herzlosen Person anzunehmen.

      Der Marsch führte sie in den Wald, dann über einen Bach und weiter nach Norden den mächtigen Karpaten entgegen. Immer steiler ging es bergauf, schon bald war von der Straße nichts mehr zu sehen. Der Wald wurde dichter und schien gar nicht mehr aufhören zu wollen. Erst am späten Nachmittag kamen sie wieder aus dem Halbdunkel heraus und wanderten über eine große Schafsweide, die nur von einem einzelnen Feldweg durchschnitten wurde. Die blökenden Tiere befanden sich ganz in der Nähe, hinter einem Holzgatter eingesperrt. Jane bemerkte auf der Weide erneut die großen Heuhaufen, die man kunstfertig in die Form von Zapfen gebracht hatte.

      »So sollte man das überall machen. Das sieht schön aus«, meinte sie, doch weder Miss Davis noch Veyron antworteten darauf. Plötzlich vernahm sie Motorengeräusche. Ein einsamer Land Rover zuckelte über den Feldweg heran, ein altes, rostiges Fahrzeug mit einer großen Pritsche, vollgestellt mit Käfigen. Jane zählte sieben Stück, und in jedem befand sich ein schwarzer Hund, wohl eine Art Schäferhund. Die Tiere wirkten ausgemergelt und ihr Fell zottig.

      »Das ist die reinste Tierquälerei«, beschwerte sie sich, je näher der Land Rover kam. Wahrscheinlich saß der Schäfer am Steuer. Wie es schien, unterhielt er mehrere Schafsweiden. Wozu würde er sonst gleich sieben Schäferhunde benötigen? Veyron schien sich diese Frage auch zu stellen, denn er ließ sich merklich hinter Miss Davis zurückfallen. Misstrauisch beäugte er das alte Geländefahrzeug.

      Ein Donnergrollen ließ Jane hochfahren. Über ihnen hatte sich schlechtes Wetter zusammengebraut. Dunkle, fast schon schwarze Wolken schoben sich vor die Sonne. Bisher war es schöner Tag gewesen. Das fand Jane ein wenig überraschend, denn ihr war gar nicht aufgefallen, wann das Wetter umgeschlagen war. Ihr kam es so vor, als wäre es gerade eben geschehen – innerhalb von Sekunden.

      Veyron fasst sie an der Schulter und brachte sie zum Halten. Er nickte zu dem alten Fahrzeug hinüber, das jetzt gut und gerne fünfzig Meter vor ihnen zum Stehen kam. »Sehen Sie genau hin. Was erkennen Sie?«, wollte er wissen.

      Die Polizistin in ihr war geweckt. Abgesehen von den sieben Hundekäfigen vermochte sie an dem Fahrzeug jedoch nichts Ungewöhnliches zu entdecken – bis auf eine Kleinigkeit, die ihr schon die ganze Zeit seltsam vorgekommen war. »Der Wagen hat getönte Scheiben«, sagte sie.

      Veyron schenkte ihr ein zufriedenes Lächeln. »Seltsam, nicht wahr? Der ganze Wagen ist rostig und schmutzig, aber die Scheiben sind getönt und überraschend sauber«, fasste er ihre Beobachtung zusammen.

      Jane spürte, wie sich in ihr alles zusammenzog. Das schien in der Tat sehr seltsam. Ihr kam wieder in den Sinn, dass Miss Davis vom Dunklen Meister gejagt wurde. »Wie weit ist es noch bis zu Ihrem


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