Am Ende siegt die Wahrheit. Bridget Sabeth

Am Ende siegt die Wahrheit - Bridget Sabeth


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der Schwester. Gemeinsam liefen sie los. Nach wenigen Schritten waren beide bis auf die Haut durchnässt, die Jacken schafften es nicht, den Regenflutmassen standzuhalten. Sie kletterten nacheinander einen Hang hinauf. Maria rutschte ab, die Erde hatte sich in Schlamm verwandelt. Sie krallte sich mit ihren Fingernägeln tief in den Boden hinein, fasste nach einem Wurzelgeflecht, hangelte sich daran empor. Andreas streckte ihr die Hand entgegen, zog sie mit einem Ruck auf die Anhöhe.

      Maria hauchte ein leises Dankeschön. Sie war völlig außer Atem. Indes deutete ihr Bruder Richtung Berg. Sie mussten weiter hinauf, wollten dem fehlenden Wasser im Bach auf den Grund gehen. Ihr Herz klopfte wild vor Anstrengung und Panik. Sie zuckte bei den Blitzen aufs Neue zusammen. Die Luft flirrte, wirkte wie elektrisch aufgeladen, während der Regen nicht nachließ. Sie folgte Andreas, vertraute ihm. Zudem wollte sie in der Finsternis keinesfalls zurückbleiben!

      »Da vorne sind Bäume verkeilt!«, brüllte Andreas.

      Es knackste furchteinflößend. Unwillkürlich suchte Maria Schutz bei ihrem Bruder, verbarg sich hinter dem breiten Rücken, spähte zaghaft nach vorne zur Barriere. Sie schluckte, als sich ein Stamm drehte. Die Blockierung schien nachzugeben. Dahinter hatte sich ein See gebildet. Um zu erkennen, wie groß er war, dafür reichten die kurzaufhellenden Blitze nicht aus. Ein weiteres Holz löste sich. Der Wall begann gefährlich zu schwanken. »Oh mein Gott!« Maria vergrub die Fingernägel im Oberarm des Bruders.

      »Wir müssen weiter rauf, sonst erwischt es uns!« Er packte sie bei den Schultern, schob sie den Hang hinauf.

      Das nächste Ächzen folgte, die Barriere brach, entließ Tausende Liter Wasser.

      Maria stolperte. Andreas zog sie hoch, schleifte sie mit.

      Sie strauchelte und sackte auf den Boden. Ein stechender Schmerz schoss von ihrem Fuß aus durch den Körper. »Ich kann nicht mehr!«

      Ihr Bruder hob sie auf, brachte sie die letzten Meter in Sicherheit, während das Wasser unter ihnen hinwegdonnerte und einen breiten Graben der Verwüstung zog. Bäume wurden wie Zahnstocher mitgerissen und durch die Gegend geschleudert.

      Marias Blick fiel auf das elterliche Haus, das durch einen grellen Blitz erhellt wurde. »Mutter! Vater!« Im flackernden Schein sah sie die Wassermassen auf das Haus zustürzen. Ein Baum durchdrang die Bretterwand. Der Dachstuhl sackte in sich zusammen. »Wir müssen ihnen helfen!« Sie sprang auf, doch der Schmerz in ihrem Knöchel ließ sie direkt in Andreas’ Arme fallen.

      »Bleib, wir können nichts tun!« Verzweifelt umklammerte er sie. »Wir müssen warten, bis es vorbei ist. Oder willst du sterben?«

      Maria schluchzte. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen. Das Prasseln wurde weniger, während sich der Wind verstärkte, die Gewitterwolken vorantrieb. Sie bibberte vor Angst, Kälte und Betroffenheit. Das lange Haar, das sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, klebte an den Wangen. War das ein Rufen? Ihr Kopf ruckte hoch, verwirrt blickte sie sich um. Das Wasser gurgelte. Nein, der Sturm hatte ihr einen Streich gespielt! Da vermochten keine anderen Geräusche durchzudringen! Sie wimmerte. »Wie lange noch?«

      Andreas strich besänftigend über ihren Rücken, während sich die Zeit des Wartens wie eine Ewigkeit dehnte.

      »Jetzt können wir nachsehen.« Andreas stupste seine Schwester an. Das dunkle Grau war deutlich heller geworden, die Regenfront mit den Wolken weitergezogen, sodass sich der Mond groß und rund präsentierte. »Komm, ich helfe dir.« Er stützte Maria.

      Sie biss die Zähne zusammen, und versuchte, den Schmerz auszublenden. Vor ihnen lagen Furchen, tief in die Erde gegraben, so wie es der größte Pflug nicht zu tun vermochte. Sie kamen bloß langsam voran. Vom Pfad, den sie zuvor gegangen waren, gab es nur mehr ein kleines Teilstück. Sie kämpften sich gemeinsam Richtung Elternhaus vor. Andreas half seiner Schwester, um über Wurzelstöcke, abgerissene Baumstämme und Geäst zu klettern.

      »Mutter? Vater?«, rief Maria von weitem. Niemand antwortete. Die nächtliche Schwärze ging in ein Morgengrauen über, gab nach und nach das Ausmaß der Zerstörung preis. Der Dachstuhl befand sich nicht mehr auf seinem Platz. Die Wände des Bauernhauses erinnerten Maria an eine Pappkartonschachtel, in sich verschoben und zusammengepresst, so, als ob jemand darauf getreten wäre. Die Holzruine stand dicht an der Seite des Stalls, der unversehrt wirkte. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte man denken können, die beiden Gebäude wären von vornherein zusammengebaut gewesen.

      Dort, wo sich vormals die Küche befunden hatte, klaffte ein riesiges Loch. Am Essplatz lagerte ein großer Stein, der Maria überragte. In diesem Raum gab es kein Weiterkommen. Matsch und Schlamm standen knöchelhoch. Über ihnen löste sich ein Brett, Maria schrie erschrocken auf. Es hatte sie zum Glück verfehlt.

      »Wir müssen einen anderen Zugang suchen!« Andreas zog sie hinaus. Ein paar aufgebrachte Hühner liefen gackernd umher. Aus dem Stall vernahmen sie die Unruhe der Tiere. Es erklang das verängstigte Muhen der Kühe, Schweine grunzten, und die Hufschläge der Pferde donnerten gegen die Mauern und Holzwände.

      Andreas entdeckte eine Öffnung, verschwand im zerstörten Haus.

      »Sei vorsichtig!«, rief Maria hinterher. Sie humpelte suchend weiter. Vorne war kein Durchkommen, sie musste es an der Hinterseite probieren, wollte die aufgeschreckten Tiere herausholen! Sie schwankte gefährlich, die Füße versanken im Schlamm. Tapfer kämpfte sie sich voran. Jeder Schritt war, als ob sich eine Nadel in ihre Ferse bohren würde, doch sie stoppte nicht. Maria bog um die Ecke.

      »Mutter! Vater!« Sie horchte. War da eine männliche Stimme? »Georg, bist du’s?!«

      Statt einer Entgegnung flog die kleine Stalltür auf, die zum Mistplatz führte. Panisch stürmten die Tiere heraus. Maria strauchelte, fiel in den Matsch und schrie entsetzt auf.

      Wenige Augenblicke später war Andreas an ihrer Seite. »Was ist los?«

      Unweit entfernt ragte eine Hand aus dem Dreck heraus. Ein goldener Ehering prangte am Finger! Das musste Mutter sein! Vater trug keinen Ring!

      Andreas löste sich als Erster aus der Erstarrung, griff nach der Hand, wollte sie herausziehen. »Ich schaff’s nicht!« Wie von einem Sog wurde der menschliche Leib zurückgehalten. Er kniete nieder, versuchte sie, mit den Händen auszugraben.

      Maria rappelte sich auf, bemerkte Georg, der zu einem Baumstamm hinkte.

      »Oh Gott, da liegt der Vater! Begraben unter dem Baum!«, stieß sie aus.

      Georgs bedauerndes Kopfschütteln zeigte, dass es keine Hilfe mehr gab. Der Knecht eilte weiter zu Andreas, um ihn zu unterstützen!

      »Hol Wasser!«, wies der Bruder Maria an.

      Wasser? Natürlich – um Mutter vom Dreck zu befreien! Ihr Blick fiel auf die Holzbaracke des Knechts, die das Unwetter unbeschadet überstanden hatte, was sie den dicken Mauern des Stallgebäudes verdankte. So rasch es ihr schmerzendes Bein zuließ, humpelte sie darauf zu. Maria langte nach dem Wasserkrug. Sie schleppte ihn zurück, während der Schlamm den schlaffen Körper mit einem schmatzenden Geräusch freigab.

      Maria begann hektisch mit dem Wasser das Gesicht der Mutter zu waschen, fingerte Dreck aus dem halboffenen Mund, spülte ihn frei.

      »Sie ist tot«, bemerkte Andreas.

      »Nein! Komm, atme! Bitte!« Maria rüttelte die Mutter.

      Weit aufgerissene Augen schauten starr durch sie hindurch. Zu spät! Schluchzend saß Maria im Dreck, bis sie den leeren Blick nicht länger ertrug und mit zittrigen Händen Mutters Augenlider schloss. Inzwischen hatte Andreas den Hengst eingefangen. Schweigend spannten er und Georg das Pferd ein, um Vater zu befreien und den Baumstamm wegzuziehen. Gemeinsam schafften sie die toten Eltern zu dem Ahornbaum. Scheu drückte Maria auch dem Vater die Lider zu. Zeitlebens hatte er keine freundlichen Gesten für sie übriggehabt, sodass sie selbst im Tod kaum wagte, ihn anzufassen. Schluchzend breitete sie eine Decke über die beiden aus. Sie sind tot! Tot!!!

      Andreas’ Hand lastete schwer auf ihrer Schulter. So nichtig kamen ihr im Moment der absurde Streit und die Meinungsverschiedenheiten vor. Wie eine


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