Leuchtenstadt. Daniel Wächter
brutalen Wahrheit als langweiliges Strafzettelverteilen.
Der Kopf des Toten bildete in Form zahlreicher Haut- und Gewebeteile ein menschliches Graffiti an der Stützmauer in seiner hässlichsten Form. Der Torso und die Gliedmassen waren allerdings intakt, ohne Spuren äusserlicher Verletzungen. Man war versucht zu glauben, dass sich hier der Dreh eines absolut brutalen Horrorfilmes abspielen würde, doch es war leider bittere Realität. Die Spurensicherung war bereits an der Arbeit.
„Gibt es Zeugen?“ Bussmann unterdrückte die aufkommende Übelkeit und versuchte, wieder ein wenig Professionalität in die Angelegenheit zu bringen.
Sauter schüttelte den Kopf. „Nein. Die Leiche wurde von einem Arbeitskollegen entdeckt. Ich führe dich gleich zu ihm!“
Im Innern des Depots sass der Finder der Leiche, gemäss Sauter ebenfalls ein Lokomotivführer namens Paul Kost, auf einem Hocker, betreut von weiteren Polizeibeamten und Angestellten der Bundesbahnen. Dieser zitterte noch mehr als Amelie und hatte den wärmespendenden Kaffeebecher umklammert wie ein kleines Kind seinen Teddybären. Traurige Augen blickten ihn aus einem blassen Gesicht an.
„Vitus Bussmann, Kriminalpolizei Luzern!“
„Kost!“, nuschelte dieser.
Bussmann griff sich einen weiteren Hocker, der ihm von einer unbekannten Hand hingestreckt wurde und setzte sich zu Kost. Die anderen Anwesenden machten sich aus dem Staub.
„Es tut mir leid, dass ich Sie befragen muss!“, entschuldigte er sich. Die Verfassung seines Gegenübers erschütterte ihn auf unnatürliche Weise.
„Thomas und ich waren beste Freunde, seit unserer Lehrzeit. Wir haben zur selben Zeit bei der Bahn angefangen und haben auch damals, vor fast dreissig Jahren, in Erstfeld gemeinsam die Ausbildung gemacht. Das war eine schöne Zeit, das sag’ ich Ihnen!“
Bussmann erachtete es als das Beste, Kost nicht zu unterbrechen. Allerdings war da jemand bedauerlicherweise anderer Meinung.
„Du musst nicht alles erzählen!“ Ein kleiner Mann, mit schütterem weissem Haar und grauem Hemd, drängte sich zwischen zwei abgestellten Eisenbahnfahrzeugen in den Vordergrund. Bussmann betrachtete ihn mit skeptischem Blick.
„Oh! Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Martin Hauser, ich bin der Vorgesetzte von Herrn Kost. Ist er etwa verdächtig? Ich bedaure, was mit Thomas passiert ist, musste er leiden. Ich meine, ...“
Bussmann verdrehte die Augen. Solch umtriebige Menschen waren ihm schon seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge. Deshalb beschloss er, den Redefluss dieses hibbeligen Vorgesetzten zu unterbrechen.
„Verzeihen Sie, Herr Hauser, aber dies ist eine polizeiliche Befragung und diese führe ich mit Vorlieben am liebsten unter vier Augen durch!“ Er hoffte, diesen Hauser dadurch zur Vernunft gebracht zu haben.
Hausers hoffnungsvoller Blick liess Bussmann kalt und nach einigen weiteren Sekunden Ignoranz schlich Hauser von dannen.
„Sie müssen nichts sagen, was Sie nicht wollen!“, wandte sich Bussmann an Kost, doch der winkte ab.
„Schon klar, aber ein bisschen reden hilft!“
Bussmann nickte und forderte Kost mit einer Handbewegung auf, weiterzureden.
Zufrieden steckte der Führer sein Telefon ein. Der Schütze hatte seine erste Aufgabe mit Bravour geleistet, er erfüllte die Erwartungen, die aufgrund seines Leistungsausweises auf ihm ruhten, vollends. Jetzt hoffte der Führer, dass auch sein Boss zufrieden war.
Doch er war sich auch bewusst, dass dies erst der Anfang war...
Kapitel 4
Lokomotivdepot SBB, Luzern, Schweiz,
März 2019
Kost erzählte von den vielen gemeinsamen Jahren mit Eiholzer und es schien, als würde der Tote in den Erzählungen seines Freundes wenigstens für eine kurze Zeit wieder zum Leben erweckt. Bei den witzigen Anekdoten verschwand auch für wenige Augenblicke der Trauerausdruck in Kosts Augen. An Bussmann nagte sichtlich das schlechte Gewissen, als er sich gezwungen sah, Kost in die Realität zurückzuholen und die Befragung in eine Richtung zu lenken, aus der Bussmann erste wichtige Angaben für die Ermittlungen erhalten könnte.
„Wie haben Sie Herrn Eiholzer denn gefunden?“
Kost benötigte offenbar einen Moment, um wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren. Dann räusperte er sich.
„Meine Schicht hatte begonnen, ich sollte als erstes einen Zug vom Depot in den Bahnhof stellen. Als ich die Treppe hinunterstieg, sah ich die orange Warnweste dort liegen. Unten erkannte ich, dass es Thomas war!“
„Warum erkannten Sie ihn, der Kopf war völlig zerfetzt, als wir hier auftauchten!“
Statt einer Antwort zog Kost seinen rechten Ärmel zurück. Auf dessen Unterarm prangte eine Tätowierung; ein Anker und ein Papagei. Bussmann nickte. Dasselbe Tattoo war ihm auch bei Eiholzers Leiche aufgefallen.
„Thomas und ich hatten uns dieses Tattoo auf Antigua stechen lassen, als wir auf Weltreise waren!“
„Bussmann! Was geht hier vor?“, platzte ein schwitzender Frank Bachmann, mit einer ebenso gehetzt wirkenden Corinne Eichenberger, in Bussmanns Büro. Bachmann war seines Zeichens Regierungsrat und in Personalunion Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements und somit Bussmanns oberster Vorgesetzter.
Sorry, ich versuchte ihn aufzuhalten!, schien Corinnes entschuldigender Blick zu signalisieren, Bussmann zwinkerte ihr vergebend zu.
„Wie meinen Sie das, Herr Regierungsrat?“
„Dieser Mord, das sieht nach einem Heckenschützen aus, die Leute in Luzern haben Angst!“
Bussmann seufzte. Die spärlichen Anhaltspunkte, die sie hatten, deuteten tatsächlich auf einen Heckenschützen hin. Keiner der befragten Anwohner schien das Geräusch eines Schusses vernommen zu haben, ebenso schien niemand etwas gesehen zu haben.
Kurz nachdem Kost die Geschichte mit der Tätowierung erzählt hatte, war dessen Vorgesetzter wieder hereingeschneit und hatte Bussmann gebeten, dieser stressigen Situation ein Ende zu bereiten. Bussmann hatte zähneknirschend eingewilligt, mehr liess sich aus Kost zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht herausholen.
Nach einer kurzen Besprechung mit dem Einsatzleiter vor Ort waren Bussmann und Sauter ins Hauptquartier an der Kasimir-Pfyffer-Strasse zurückgekehrt. Peinlich berührt musste Bussmann am Empfang seinem jungen Kollegen den Vortritt lassen, weil er seine komplette Ausrüstung inklusive Badge zuhause gelassen hatte. Silvia Immoos am Empfang konnte sich ein Schmunzeln nur schwer verkneifen.
„Wir geben unser Bestes, den Mordfall schnellstmöglich aufzuklären!“
„Das will ich auch hoffen, ich will ein sicheres Luzern für meine Wählerinnen und Wähler. Denken Sie bitte daran, dass Ende Monat Regierungsratswahlen stattfinden und meine politische Zukunft auf dem Spiel steht!“
„Ich verspreche es!“ Zur Unterstreichung seines Schwurs reckte Bussmann Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand in die Höhe. Bachmann nahm es zufrieden zur Kenntnis.
„Ich weiss, dass Sie es schaffen, Bussmann! Sie sind unser bester Mann!“
Dann rauschte der Regierungsrat aus dem Zimmer und Bussmann wandte sich Kripochefin Eichenberger zu, welche den Wortwechsel schweigend mitverfolgt hatte.
„Es stirbt ein Mensch und für ihn ist die Politik am Wichtigsten!“, enervierte sie sich und stemmte ihre Hände in die Hüfte, was Bussmann zum Lachen brachte.
„Ich kann ihn irgendwie verstehen“, entgegnete er. „Wenn seine Abteilung gute Arbeit macht, dann kann er sich auf die Schulter klopfen.“
Augenrollend seufzte Eichenberger. „Was ist der neuste Stand der Ermittlungen?“
„Ich