Mulaule. Rita Renate Schönig

Mulaule - Rita Renate Schönig


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... also, weshalb ich hier bin. Wo wollen Sie eigentlich hin? Sie haben einen neuen Fall.“

      Nicole schlängelte sich an ihrem Vorgesetzten vorbei. „Wir sind schon unterwegs.“

      „Ja, aber Sie wissen doch noch gar nicht wohin?“ Dr. Lechner drehte sich halb um die eigene Achse.

      „Nach Seligenstadt. Dort wurde eine Tote aufgefunden.“

      „Es sei denn, Sie haben eine weitere Leiche für uns?“, ergänzte Nicole die Aussage von Harald.

      „Eh, ja ... ich meine, natürlich nein. Eine Leiche pro Tag genügt ja wohl. Oder?“

      Dr. Lechner wischte mit einem blütenweißen Batist-Taschentuch seine mit Schweißperlen bedeckte Stirn ab. Schuld dafür war nicht die stickige Luft in den Fluren des alten Polizeipräsidiums, das nie über eine Klimaanlage verfügt hatte und auch keine mehr erhalten würde, weil ein Neubau bereits in Planung war, sondern sein stetig steigender Blutdruck.

      „Wir wurden gerade von den Kollegen des KDD unterrichtet“, beendete Nicole die sichtbar mentale Überbeanspruchung ihres Chefs. „Sobald wir mehr wissen, geben wir Ihnen sofort Bescheid, wie immer.“

      „Ja, ja, tun Sie das. Ich weiß ja, dass ich mich auf Sie verlassen kann, Frau Wegener. Viel Erfolg.“

      Mit diesen lobenden und aufbauenden Worten schritt Dr. Ludwig Lechner, mit leicht hängenden Schultern, den Gang entlang.

      „Viel Erfolg?“, wiederholte Lars, als sie alle drei im Fahrstuhl nach unten fuhren. „Was ist denn mit dem los?“

      „Er überlebte gerade einen Anschlag durch einen Stabilo point“, antwortete Harald. „Wie würdest du darauf reagieren?“

      „Hoffentlich behält er kein Trauma zurück“, lachte Lars.

      „Jungs, bitte“, erwiderte Nicole. „Etwas mehr Respekt. Auch wenn Dr. Lechner manchmal etwas ... sonderlich ist, so ist er noch immer unser Chef.“

      „Wie lange, glaubst du, wird er uns noch erhalten bleiben?“, fragte Harald. „Immerhin ist er auch schon 64 und längst pensionsberechtigt und, so ganz gesund sah er gerade auch nicht aus.“

      Nicole zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich hoffe aber noch ganze Weile. Bei ihm wissen wir zumindest woran wir sind. Was danach kommt, steht in den Sternen. Also, seid lieb zu ihm. Klar?“

      „Klar, Chefin“, antwortete Harald.

      „Genau wie zu dir“, setzte Lars nach. „Wir beide lieben dich sehr. Stimmt’s Harry?“

      Nicole grinste. „Nicht nötig. Die Aufgabe hat Andy bereits übernommen.“

      Mittwoch / 10:20 Uhr

      Das große Haus hatte es möglich gemacht, dass sie zwischen zwei Räumen wählen konnte. Sie entschied sich für das Zimmer, von dem aus sie den Blick in den Garten hatte.

      Nun schaute sie aus dem Fenster auf den von der Hitze des Sommers gezeichneten, nicht mehr ganz grünen Rasen und auf das schon herbstlich gefärbte Laub der Bäume.

      Auf den Tag genau, vor einem Jahr, war die 63-Jährige aus dem ehelichen Schlafzimmer ausgezogen, was bei ihrem Ehemann auf Unverständnis stieß und letztlich in einem groben Wortgefecht, vonseiten ihres Gatten, endete.

      Sie hätte wohl nicht mehr alle Sinne beisammen, schnaubte er wutentbrannt und drohte, sie aus dem Haus zu werfen, und zwar mittellos, sollte sie nicht zur Vernunft kommen.

      Maria Hagemann verstand nicht wieso er, sogar in den eigenen vier Wänden, darauf bestand diese Farce aufrechtzuerhalten. Ebenso wenig konnte sie ergründen, woher sie plötzlich den Mut genommen hatte, ihm ins Gesicht zu schleudern, wenn er sie rauswerfen würde, sie allen erzählen würde, weshalb Daniel wirklich von zu Hause weggelaufen war.

      Im ersten Moment war der Staatsanwalt a.D. sichtlich erschrocken. Noch niemals zuvor hatte es irgendwer gewagt, ihm zu drohen. Am wenigsten hätte er dies von seiner, bis dato gehorsamen, Ehefrau erwartet.

      Mit einem hässlichen, aber unsicherem Lachen verließ er danach das Haus. Natürlich in dem unerschütterlichen Glauben, dass Maria bei seiner Rückkehr zur Besinnung gekommen sein würde.

      Nur blieb sie diesmal stur, wie ihr Ehemann erkennen sollte. Genauso wie er sich, seit diesem Tag, mit der Tatsache abfinden musste, dass seine Ehefrau sich weigerte, weiterhin an Veranstaltungen teilzunehmen, an deren Organisation er maßgeblich beteiligt war, oder dessen Vorsitz er ehrenamtlich innehatte. Wodurch sich Heinz Hagemann gezwungen sah, die Abwesenheit seiner Frau immer wieder durch neue Ausreden entschuldigen zu müssen.

      Nach 40 Jahren Ehe, in denen Maria sich stets seinen Wünschen untergeordnet hatte, ohne zu widersprechen, brach für ihn eine Welt zusammen.

      Eine Ehefrau hatte ihrem Ehemann Folge zu leisten! So war es schon bei seinen Eltern, bei ihren ebenso und den Generationen davor. Die zwangsläufig enge Verbindung zur Kirche, mit ihren christlichen Dogmen, denen sie beide ebenfalls von Haus aus anhingen, tat das Restliche dazu.

      Deshalb war es nicht weiter verwunderlich, dass Maria Hagemann, nachdem ihr einziger Sohn, von zu Hause weggelaufen war, ihr Heil und ihre Kraft in Gebeten und dem fast täglichen Kirchgang suchte.

      Anfangs hatte sie die Hoffnung, wenn sie nur intensiv genug zu Gott dem Herrn betete, würde ihr Sohn bestimmt wieder heimkehren. Aber ihre Gebete wurden nicht erhört und ihr Ehemann tat sein Möglichstes, Salz in ihre Wunden zu streuen.

      Du hast ihn verweichlicht, zu einer Memme verzogen, sonst hätte er das niemals getan, so seine, sich beinahe täglich wiederholende Anklage, die nur darauf zielte, seine eigene Fehlerhaftigkeit zu verbergen. Dabei wusste Maria seit Jahrzehnten von seinem Geheimnis. Sie sprach nur nie darüber – verdrängte es und ertrug ihr Schicksal. Was blieb ihr anderes übrig.

      Nach wie vor kochte sie, hielt das große Haus sauber, in dem sie sich nie richtig wohl gefühlt hatte und versorgte den Garten – ihre einzige Freude.

      Maria Hagemanns Umdenken und somit auch ihr Widerstand gegen ihren Ehemann begann an dem Morgen, an dem sie, nach mehr als 19 Jahren, einen Brief von ihrem Sohn in den Händen hielt. Sie konnte es kaum glauben und dennoch hatte sie es in ihrem Inneren immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde.

      Entgegen allen Äußerungen aus ihrem Umfeld – ihr Sohn wäre vermutlich nicht mehr am Leben, womöglich sogar Opfer eines Triebtäters geworden – hatte sie nie wirklich daran gezweifelt, dass Daniel sich eines Tages wieder bei ihr melden würde.

      In krakeligen Buchstaben entschuldigte er sich dafür, sich in all den Jahren nicht gemeldet zu haben. Oft hätte er Anlauf genommen, aber in letzter Minute der Mut verlassen. Jetzt hätte eine Entscheidung getroffen, die sein kommendes Leben beeinflussen würde. Eine nähere Erklärung würde er ihr gerne persönlich mitteilen, wozu er noch etwas Zeit benötigte.

      Nachfolgend schilderte Daniel sein Lebensweg, seit dem Zeitpunkt, als er mit 17 Jahren von zu Hause weggegangen war.

      Gelegenheitsjobs, um über die Runden zu kommen – ein kleines Zimmer, bei einem netten Ehepaar in Frankfurt. Später – eine Lehre als Schreiner, dann Prüfung zum Meister – Umzug nach Mainz, wo er seit mehr als 10 Jahren in einer glücklichen Beziehung sei und in einem Architektenbüro arbeite.

      Maria fühlte Erleichterung und Stolz, dass Daniel es trotz der widrigen Umstände geschafft hatte, sich ein neues Leben aufzubauen. Gleichzeitig beschlich sie Furcht. Was war in den letzten Monaten passiert? Welche Entscheidung meinte ihr Sohn und weshalb suchte er gerade jetzt den Kontakt zu ihr? Sollte er vielleicht schwer krank sein, möglicherweise Krebs haben, eine Knochenmarkspende benötigen oder brauchte er eine Organspende?

      Sie malte sich die schlimmsten Dinge aus. Ihr Herz schien zerspringen zu wollen und ihre Augen brannten. Aber, da kamen keine Tränen, die ihre jahrelangen Qualen hätten mildern können. Dagegen verspürte sie eine niemals gekannte und nicht für möglich gehaltene Wut auf ihren Ehemann, der nie würde erfahren


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