Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel
Date Masamune saß in der Nähe des Heckmastes unter einem Sonnenschirm und hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt mit dem Kapitän unterhalten. Sich von diesem abwendend, rief er Katakura Shigenaga etwas zu. Dieser verbeugte sich leicht vor dem Daimyo und forderte mich dann auf, mit zum Fürsten zu kommen. Als wir vor ihm standen und ich ihn unschlüssig anblickte, sprach der Daimyo in barschem Tonfall mit Shigenaga. Erstaunt sah ich von einem zum anderen. Es war alles sehr widersprüchlich und ungewohnt für mich. Zum einen sah ich im Gesicht des Fürsten ein hintergründiges Lächeln, und zum anderen war der Tonfall wie eine strenge Rüge. Mein Dolmetscher machte eine unterwürfige Geste, antwortete knapp und wendete sich mir zu.
›Date Masamune hat mich soeben gerügt, weil ich dir noch nichts von unseren Sitten und Gebräuchen beigebracht habe. Auch wenn der Fürst in den Momenten, wenn wir unter uns sind, mit dir oder mir einen vertraulichen Umgang pflegt, darf er das nach außen nicht zeigen. Er muss das Gesicht wahren, und wir müssen ihm den gebührenden Respekt zollen. Es ist von der Sache her nur gespielt, aber wichtig für den Erhalt seiner Stellung. Das heißt, wenn du in Gegenwart anderer zum Fürsten gerufen wirst, näherst du dich ihm langsam und mit gesenktem Blick bis auf fünf Schritte.‹
Ich schaute nach unten und trat zwei Schritte zurück, denn ich war schon bis auf drei herangetreten.
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über die Gesichter der beiden, und Katakura Shigenaga sprach weiter:
›Dann beugst du vor ihm das Knie. Das linke Knie und die linke Faust auf dem Boden. Die rechte Hand, da du keine Schwerter besitzt, auf den rechten Oberschenkel gestützt. Wärst du ein Samurai, müsste deine rechte Hand hinter dem Rücken die Scheide deines Schwertes umfassen, um damit zu zeigen, dass du den Fürsten nicht angreifen willst.‹
Die ganze Zeremonie erschien mir nach unserem bisherigen zwanglosen Umgang ein wenig seltsam, doch ich war im Begriff, ein fremdes Land mit mir noch unbekannten Sitten zu betreten, und empfand es als unpassend, ihre Gebräuche in Frage zu stellen. Ich beugte also das Knie und befolgte die weiteren Anweisungen meines Dolmetschers.
Mit einem leichten Neigen des Kopfes quittierte der Daimyo meine Handlungsweise, und Shigenaga fuhr in seinen Erläuterungen fort:
›Dein Blick ist dabei auf den Boden gerichtet, und erst wenn dich der Fürst dazu auffordert, schaust du ihn an.‹
Katakura Shigenaga hatte sich ähnlich verhalten, nur mit dem Unterschied, dass er sich ein wenig vor mir, dem Daimyo die rechte Seite zuwendend, befand.
In harschem Tonfall, von einer auffordernden Geste begleitet, die ich aus den Augenwinkeln sah, sprach Date Masamune uns an. Ich entnahm der Geste, dass ich aufblicken konnte, und sah dem Fürsten ins Auge. Ein klein wenig Schalk lag in seinem Blick, doch das währte nur kurz, und ein Außenstehender hätte es sicherlich nicht bemerkt.
›Gut, du hast die Aufforderung teilweise schon verstanden‹, Shigenaga nickte mir anerkennend zu. ›Der Fürst hat dir erlaubt, sich ihm bis auf drei Schritte – das ist der übliche Abstand – zu nähern und ihm gegenüber Platz zu nehmen.‹
Umgehend folgte ich der Anweisung.
›Halt, nicht so schnell und mit gesenktem Kopf.‹
Ich stockte und neigte den Kopf.
›Gut, und nun knie nieder und setze dich auf deine Unterschenkel.‹
Katakura Shigenaga wendete sich dem Daimyo zu, verbeugte sich leicht und richtete einige Worte an ihn. Nach dessen Antwort drehte er sich wieder zu mir um und sagte:
›Der Fürst wünscht, dass ich dir dieses Verhalten erkläre.‹
Ich wendete mich wieder Shigenaga zu und wurde sofort korrigiert:
›Nein, schau nicht mich an, denn ich bin nur der Dolmetscher, dein eigentlicher Gesprächspartner ist Date Masamune.‹
Als ich seiner Anweisung folgte, konnte ich noch ein leichtes Kopfneigen von ihm sehen, dann fuhr er fort:
›Du erweist dem Daimyo damit den nötigen Respekt‹, er holte tief Luft. ›Mein Herr hat mich vorhin zu Recht gerügt, denn ich habe sehr unbedacht gehandelt. Auf dieser Reise nach China war es nicht notwendig, solche Zeremonien aufrechtzuerhalten, doch jetzt, vor allem in Edo, ist es unumgänglich, um Date Masamune nicht zu schaden. Auch dir könnte bei einem Fehlverhalten Schaden entstehen, und das möchte der Fürst, da du ja auf seinen Wunsch hin mitgekommen bist, verhindern. Du musst in nächster Zeit sehr vorsichtig sein und genau auf mich achten, damit ich dir alles Notwendige vermitteln kann.‹
Ich nickte zur Bestätigung, ohne den Blick vom Fürsten abzuwenden.
›Gut, nun zum eigentlichen Zweck dieses Gespräches.‹
Die Anspannung der letzten Minuten schien ein klein wenig von Katakura Shigenaga abzufallen.
›Der Fürst muss, sobald wir in Edo sind, beim Shogun um eine Audienz bitten und ihm Bericht erstatten. Zu dieser Audienz darf ihn keiner begleiten, schon gar nicht du mit deinem offenkundig ausländischen Aussehen.‹
Ich holte Luft, um einen Einwurf zu machen, doch er unterbrach mich sofort.
›Ich erkläre das später in Ruhe!‹
Ich atmete aus und neigte leicht den Kopf.
›Gut, Date Masamune hätte gern einen Rat von dir. In einem Gespräch nach dem Kampf hattest du gesagt, du würdest dem Shogun die Reise nach Shaolin als notwendig und erfolgreich schildern. Der Fürst möchte wissen, wie er das machen soll.‹
›Nun, dazu wäre es sinnvoll, wenn ich wüsste, was der eigentliche Zweck des Besuchs am chinesischen Kaiserhof war.‹
Da Katakura Shigenaga nicht gleich mit der Übersetzung begann, machte ich eine auffordernde Handbewegung, denn ich wollte, eingedenk seiner Worte, den Blick nicht vom Daimyo abwenden.
Zögernd übersetzte er meine Frage und erntete nur zwei Worte und ein Kopfschütteln.
›Der Fürst kann und darf dir den Grund dieser Reise nicht mitteilen!‹
›Hm, ich hatte etwas in der Art erwartet. Nun gut, ich muss also ein wenig raten und gehe deshalb davon aus, dass es mit den immer wieder auftretenden Feindseligkeiten zwischen China und Japan zusammenhängt.‹
Shigenaga übersetzte fließend meine Worte, und Date Masamune hob am Ende leicht die Schultern. Dabei machte er eine Geste, die ich als »vielleicht« deutete.