Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel
Dingen von diesen Männern unterrichtet, und dabei habe ich ihre Sprache erlernt.‹
Er machte eine kleine Pause, und sein Gesicht nahm einen leicht verträumten Ausdruck an. Es schienen schöne Erinnerungen an jene Zeit zu sein, die ihm gerade in den Sinn kamen. Doch das dauerte nur kurz. Er blickte wieder hoch und fuhr fort:
›Ja, und die Seereise in Japans Gewässern kann ich so gut beschreiben, weil ich im Auftrag des Daimyo schon mehrfach zur Insel Shikoku und auch darüber hinaus gefahren bin. Date Hidemune, der älteste Sohn meines Herrn, hat vom Shogun das Lehen Uwajima auf der Insel Shikoku erhalten, und ich habe ihn öfter dort aufsuchen müssen.‹
›Ist es bei euch nicht üblich, dass der älteste Sohn die Nachfolge seines Vaters antritt?‹
›Das schon, doch Date Hidemune ist kein Sohn von Megohime, der Frau meines Herrn. Er ist der Sohn einer Konkubine und kann deshalb das Erbe seines Vaters nicht antreten. Er darf zwar den Namen seines Vaters führen, aber in der Rangfolge kommt immer erst der erstgeborene Sohn aus der ehelichen Verbindung.‹
›O je, ist das kompliziert. Kommt es da nicht zu Konflikten und Reibereien?‹
›Eher selten, es ist alles klar geregelt, und alles unterliegt einer strengen Rangordnung. Früher kam es öfter vor, dass in Familien der eine oder andere aus dieser Ordnung ausbrechen wollte, doch unter der strengen Führung des Shogun ist das nicht mehr so einfach.‹
›Warum hat der Fürst eine Konkubine? Ist er mit seiner Frau nicht glücklich?‹
Shigenaga sah mich verständnislos an.
›Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Date Masamune ist ein großer Daimyo. Es ist üblich und gehört zum guten Ton, dass sich ein Mann in einer solchen Position eine oder mehrere Konkubinen hält. Mein Herr hat sieben, aber in letzter Zeit sucht er sie nicht mehr so oft auf, denn er denkt mittlerweile ein wenig anders über diesen Brauch. Doch das ist nur inoffiziell. Mehr möchte ich darüber nicht sagen.‹
Mein Blick ruhte auf dem Meer, ohne das ich etwas davon wahrnahm. Ich dachte über das Gehörte nach, und Katakura Shigenaga beobachtete mich gespannt.
Nach einer Weile durchbrach er die Stille und fragte:
›Es hat den Anschein, dass du diesen Brauch noch nicht kennst? Gibt es dort, wo du herkommst, keine Konkubinen?‹
›Offiziell nicht. Sicherlich haben manche Männer eine Geliebte, aber das wird meist geheim gehalten. Wenn sich manche Männer damit brüsten, dann in der Regel nur von Mann zu Mann, unter Gleichgesinnten. Im Allgemeinen schadet es dem Ruf, vor allem dann, wenn es eine hochgestellte Persönlichkeit betrifft. Ich persönlich empfinde Nebenfrauen als wenig sinnvoll, denn es schafft nur Probleme. Aber ich möchte mir da kein Urteil erlauben, weil ich noch viel zu wenig über euer Land und Volk weiß. Es hat sicherlich seine Gründe und Ursachen und vielleicht ...‹, ich stockte kurz, ›vielleicht auch seine Berechtigung.‹
Er lachte kurz auf.
›Ja, seine Gründe und Ursachen hat es auf jeden Fall, ob es deswegen seine Berechtigung hat, weiß ich nicht.‹
Er schaute über Bord und beobachtete einen Schwarm Fische, der knapp unter der Wasseroberfläche neben dem Schiff dahinglitt. Dabei sprach er leise und mehr zu sich:
›Unser Volk und vor allem der Stand, dem ich angehöre, schätzt die kriegerischen Fähigkeiten und die Macht eines Mannes mehr als alles andere. Aus diesem und anderen Gründen haben wir uns in den letzten Jahrhunderten immer wieder gegenseitig zerfleischt. Es wurden ständig Kriege geführt und territoriale Machtkämpfe ausgefochten. Viele Banditen und herrenlose Krieger zogen durchs Land. Sie raubten und mordeten ohne Gnade. Das Resultat war und ist, dass es einen Frauenüberschuss und viele Witwen gibt. Schon vor vielen hundert Jahren kam der Brauch auf, dass Männer, die es sich leisten konnten, solche Frauen in Dienst genommen haben, um ihnen Schutz zu gewähren. Der Weg bis zur Konkubine war dann nicht mehr weit. Doch mittlerweile haben sich diese Gründe verloren, und es geht jetzt meist mehr darum, Familien an sich zu binden, oder die Familien der Konkubinen möchten sich das Wohlwollen eines hohen Herren damit erkaufen. Und natürlich befriedigen viele Männer damit Ihre Bedürfnisse.‹
Er sah hoch und mir in die Augen, ›Doch ich rede hier über Dinge, die ein gefährliches Gedankengut sind, denn keiner möchte an diesen Bräuchen und Ritualen rühren. Auch erinnern solche Reden an die christlichen Missionare, die seit einiger Zeit aus dem Land verbannt sind. Date Masamune und ich haben des Öfteren über solche Sachen gesprochen. Wir sehen mittlerweile vieles ein wenig anders als die anderen Männer unseres Standes, doch öffentlich dazu bekennen dürfen wir uns nicht. Es wäre unser Todesurteil. Also, wenn du uns und unsere Familien nicht ins Unglück stürzen willst, dann behalte es für dich, und sprich möglichst nicht mit dem Fürsten darüber.‹
Ich nickte und bemühte mich, das Thema zu wechseln.
›Ist Edo eine sehr große Stadt?‹
Er erkannte meine Absicht, lächelte und ging darauf ein.
›Das kommt darauf an, was für Vergleiche du hast. Du kannst Edo sicherlich nicht mit der Residenzstadt des chinesischen Kaisers vergleichen, denn Edo ist noch jung. Die Stadt wird gerade erst richtig aufgebaut, es ist alles neu und wohlgeordnet. Viele tausend Arbeiter sind damit beschäftigt, den sumpfigen Boden zu befestigen sowie Straßen und neue Gebäude zu bauen. Die Burg des Shogun und eine Grundstruktur sind schon vorhanden. Als ich noch ein Kind war, war Edo ein kleines Fischerdorf, doch Tokugawa Ieyasu, der erste große Shogun, erkor sich dieses Dorf zur Residenz. Seit dieser Zeit wird in Edo gebaut. Erst noch zurückhaltend und jetzt, nachdem sich die Macht des amtierenden Shogun über ganz Japan erstreckt, mehr. Alle Daimyo müssen sich am Aufbau der Stadt beteiligen und verbringen auch einen großen Teil ihres Lebens hier.‹
Er wendete sich wieder um und blickte aufs Wasser.
›Was für ein Aufwand und was für Kosten! Die Mittel könnten in den Provinzen der Daimyo gut gebraucht werden. Doch keiner wagt es, sich dagegen aufzulehnen. Der Shogun hat die Macht, und alle sind ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.‹
Er schüttelte den Kopf.
›Aber die Stadt wird schön. Der Stadtkern ist die Burg, und um sie herum scharen sich die Anwesen der ranghöchsten Samurai. Damit meine ich die der Daimyos und etwas weiter von der Burg entfernt die Häuser von deren direkten Untergebenen. Also Bushi wie mich. Je weiter weg von der Burg das Haus, desto geringer der Rang des Besitzes.