Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel
das so sein sollte, dann sind natürlich alle Informationen, die mit der Ausbildung der chinesischen Truppen zu tun haben, von Bedeutung. Date Masamune hat Gerüchte gehört oder unter der Hand von Zuträgern einiges über die kämpfenden Shaolin-Mönche erfahren. Ihm kam zu Ohren, dass sie die kaiserlichen Wachen und hohe Offiziere ausbilden, ein gewisses Truppenpotential haben und aktiv in Konflikte eingreifen. Darüber hinaus wurden sie als hervorragende Kämpfer gerühmt, die von einem großen General angeführt werden.‹
Ich machte eine kleine Pause, denn ich bemerkte die Anspannung in Masamunes Blick und Haltung. Seine aufgewühlten Gedanken waren von meinem geschulten Geist leicht zu bemerken, da ich seine Sprache noch nicht verstand, nahm ich jedoch im Moment nur wirre Bilder wahr. Es gelang mir nicht, diese richtig zuzuordnen, und mir wurde klar, dass ich ihm vermutlich mehr verraten hatte, als er bereits wusste.
War das richtig von mir?
Mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn mit einer Geste forderte er mich auf weiterzusprechen.
›Wenn meine bisherigen Vermutungen richtig sind, dann ist es logisch und im Sinne des Auftrages zwingend erforderlich, den Wahrheitsgehalt dieser Informationen zu prüfen. Da dies am Kaiserhof nicht möglich war, blieb nur die Reise zum Shaolin-Kloster übrig. Man könnte dem Shogun die Frage stellen, ob er in dieser Situation nicht die gleiche Entscheidung getroffen hätte.‹
Ich schaute erwartungsvoll in das Gesicht des Fürsten, und nach einer kleinen Pause, in der er seine Hände intensiv betrachtet hatte, begann er langsam und ruhig zu sprechen:
›Das sind sehr interessante Gedanken, die du da geäußert hast. Womit Date Masamune natürlich nicht sagen will, dass deine Vermutungen zutreffen.‹
Ich konnte das Lächeln in Shigenagas Gesicht wahrnehmen, ohne dass ich es sah.
›Der Daimyo muss dir vielleicht noch einige Hintergründe erklären, die diese Situation etwas komplizierter machen.‹
Masamune machte eine kurze Pause, um zu warten, bis der Dolmetscher mir das bisher Gesagte übersetzt hatte.
›Bisher haben wir immer nur vom Shogun als dem amtierenden Machthaber und obersten Landesherrn gesprochen. In Wahrheit sind die Machtverhältnisse in unserem Land um einiges komplizierter. Auch wir haben einen Kaiser, den Tenno. Er wird als Gottkaiser verehrt und sollte mit dem Hofadel eigentlich das Land regieren. Doch die Macht liegt in den Händen des Shogun und seiner engsten Berater. Der amtierende Shogun ist Tokugawa Iemitsu, aber das ist nur nach außen hin so, denn er hat das Amt von seinem Vater vorzeitig vererbt bekommen, um Machtkämpfen vorzubeugen. Die eigentliche Macht liegt immer noch in den Händen von Tokugawa Hidetada.‹
Date Masamune sprach im gleichen ruhigen Tonfall weiter:
›Immer wieder entstehen kleinere und größere Konflikte, da der Sohn nur ungern den Einfluss seines Vaters gelten lässt. Mein Herr ist Tokugawa Hidetada in mehreren Punkten sehr verpflichtet. Sein erstgeborener Sohn – Date Hidemune – ist nur dank der guten Beziehungen des Date-Clans zu ihm, Daimyo von Uwajima geworden. Der Shogun kann ihm dieses Lehen aber jeder Zeit wieder entziehen. Auch die Vereinbarung betreffs Date Tadamune wurde mit dem Vater getroffen, weshalb der Fürst die China-Reise antreten musste.‹
Mein Dolmetscher holte tief Luft.
›Mein Herr ist also dem alten Shogun in vielerlei Hinsicht verpflichtet. Andererseits wird irgendwann Tokugawa Iemitsu der alleinige Machthaber sein, und deshalb darf sich Date Masamune ihn nicht zum Feind machen. Auch dieser kann dem Date-Clan jederzeit großen Schaden zufügen. Als wir die Reise angetreten haben, hat der amtierende Shogun unmissverständlich kundgetan, dass er das Unternehmen nicht gutheißt. Doch konnte er sich seinem Vater gegenüber nicht durchsetzen, und nun befürchtet Date Masamune, dass ihm das, auch wegen der Reise nach Shaolin, zum Schaden gereicht.‹
›Warum stand der amtierende Shogun dieser Reise ablehnend gegenüber?‹
›Nun, der Vater ist ein wenig weltoffener als der Sohn. Auch er ist vorsichtig und bemerkt, dass die christliche Missionierung der Machtposition unseres Standes nicht förderlich ist. Er ist wie der Sohn der Meinung, dass die Eigenständigkeit unseres Landes durch den Einfluss der westlichen Länder gefährdet wird. Aber im Gegensatz zum Sohn befürchtet er mehr Nachteile durch eine Abschottung nach außen. Er denkt, dass es der Landesentwicklung förderlicher wäre, wenn wir uns vorsichtig öffnen und einen gut kontrollierten Handel mit anderen Ländern führen. Vor allem China als unser nächster großer Nachbar könnte in diesem Punkt sehr wichtig werden. Entweder als ein guter Handelspartner oder, na ja, vielleicht auch als ...‹
Er ließ diesen Satz unvollendet und schloss seine Erläuterung mit der Information, dass der amtierende Shogun das Land nach außen komplett abschirmen möchte, um alle fremden Einflüsse zu unterbinden.
›Hm, das sind natürlich schwierige Verhältnisse, aber vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick scheint.‹
Nachdenklich strich ich mir mit der rechten Hand über Mund und Kinn.
›Muss der Fürst nur dem alten Shogun, beiden gleichzeitig oder in getrennten Gesprächen Bericht erstatten?‹
Shigenaga übersetzte meine Frage, und ohne groß nachzudenken, kam die Antwort vom Daimyo:
›Er denkt, dass es eher unwahrscheinlich ist, dass er beide gleichzeitig informieren muss. Vermutlich wird ihn erst der Vater zur Berichterstattung einbestellen, bei dem das Zeremoniell nicht so umfangreich ist. Doch auch dem amtierenden Shogun muss er auf jeden Fall Rede und Antwort stehen, da er nach außen hin die Reise angeordnet hat.‹
›Nun, vielleicht ist das ganz günstig. Dem alten Shogun, Taka ... Wie hieß er doch gleich?‹
›Tokugawa Hidetada.‹
›Ach ja, Tokugawa Hidetada würde ich so informieren, wie wir es vorhin besprochen haben. Ich würde versuchen, das Gespräch so zu lenken, dass es ihm wichtig erscheint, ein starkes China nicht zu unterschätzen. Dass es aber gleichzeitig notwendig ist, gewisse Verbindungen aufrechtzuerhalten, um auf dem Laufenden zu bleiben.‹
Ich machte eine kurze Pause, um meine Gedanken zu ordnen.
›Dem Sohn würde ich den gleichen