Traum oder wahres Leben. Joachim R. Steudel
sagte doch, mein Herr hat mehr Einfluss, als Sie denken.‹
Der leicht verärgerte Holländer wollte etwas erwidern, aber Shigenaga schnitt ihm das Wort ab.
›Sie müssten doch mittlerweile gemerkt haben, dass alle Ausländer schärfer beobachtet werden. Mein Fürst hat sehr gute Kontakte, er erfährt manches sogar eher als der Shogun.‹
Er wurde immer leiser, als er sagte:
›Date Masamune war längere Zeit nicht im Lande und bekommt jetzt nach und nach alle wichtigen Informationen. Er bittet Sie, die Audienz noch ein wenig hinauszuzögern oder, wenn sie schon in den nächsten Tagen stattfinden sollte, wirklich nur den Anstandsbesuch bei Tokugawa Iemitsu zu machen.‹
Wieder schaute sich Shigenaga verstohlen um und fuhr fast flüsternd fort:
›Mein Herr ist jetzt bei Tokugawa Hidetada, dem alten Shogun, und wird vorsichtig auch Ihre Sorgen zur Sprache bringen. Sie wissen sicher, dass Tokugawa Hidetada ein nicht ganz so strenges Vorgehen wünscht, doch auch er ist verärgert wegen der illegalen Ausfuhr bestimmter Waren.‹
›Was soll denn das heißen? Wollen Sie uns des Diebstahls bezichtigen?‹, warf van Neyenrode mit gespielter Entrüstung ein.
›Wie könnte ich‹, schnaubte Shigenaga belustigt. ›Wir wissen doch beide, dass verschiedene Daimyos Geschäfte mit Ihnen machen, die nicht beim Handelsministerium angezeigt werden. Und genau das verärgert Tokugawa Hidetada und Tokugawa Iemitsu. Doch vielleicht ...‹
Ich verlor das Interesse an diesem Disput, hier ging es um Intrigen, die mich nicht betrafen und in die ich auch nicht verstrickt werden wollte. Da ich vorläufig keine Gelegenheit sah, mit dem Holländer wieder ins Gespräch zu kommen, ging ich einige Schritte zur Seite und schaute mir das Hafengetümmel an. Ein kleineres Schiff hatte, aus der Flussmündung kommend, den Hafen angesteuert und wurde entladen. Hafenarbeiter schleppten mit Reis gefüllte Körbe in ein Lagerhaus, und ein Beamter prüfte, ob sie auch bis zum Rand gefüllt waren. Auf einer Liste wurde jeder Korb registriert, und zwei Samurai, die die Arbeiten mit überwachten, trieben die Träger immer wieder an. Von der Stadt her näherte sich ein offensichtlich hochrangiger Samurai. Er war gut gekleidet, und vor ihm scheuchten zwei weniger gut ausgestattete Krieger die einfachen Leute zur Seite.
Gebannt beobachtete ich diesen Aufzug und musterte dabei den Samurai genau. Er hatte hochmütige Gesichtszüge, eine kleine Nase, aber einen kräftigen Schnauzbart. Ein weißes Stirnband mit einer Art Wappen zeigte anscheinend seinen Rang an. Seine Oberbekleidung bestand aus einem weißen Kimono mit weiten, am unteren Rand schwarz gemusterten Ärmeln. Der Kimono war vorn offen, und man konnte einen bunt gemusterten Brust- und Bauchpanzer sehen. Im Obi, dem traditionellen Gürtel der Samurai, steckten ein kleines und ein großes Schwert, so wie ich es schon von meinen neuen Freunden kannte. In der rechten Hand hielt er einen geschlossenen Fächer, und aus seinem schwarzen Hosenrock schauten die nackten Füße, die in Reisstrohsandalen steckten. Zwei offensichtlich niederrangige Samurai folgten ihm und die einfachen Menschen am Wegesrand versuchten entweder Abstand zu gewinnen, oder sie neigten ehrerbietig das Haupt.
Dieser Zug kam direkt an uns vorbei, und ich konnte den Blick nicht abwenden. Plötzlich, ohne dass ich wusste, wie mir geschah, stürmt einer der vorauslaufenden Samurai auf mich zu. Ein wütender Wortschwall ergoss sich über mich, und er schwang sein Schwert, das noch in der Scheide steckte, wie einen Knüppel. Reflexartig hob ich die Arme, um die drohenden Schläge abzuwehren, doch das war nicht nötig. Katakura Shigenaga war durch die Schimpftirade aufmerksam geworden und stand blitzartig zum Schutz vor mir. Alles ging sehr schnell, und durch das, was mir Shigenaga zurief, ging mir langsam ein Licht auf.
›Schnell, beuge dein Knie, und neige das Haupt!‹
Auch er hatte das Haupt geneigt, doch sein Schwert hielt er plötzlich, mit der linken Hand an der Scheide, waagerrecht in Brusthöhe. Die rechte konnte jederzeit das Schwert ziehen, und sein ganzes Auftreten machte nicht den Eindruck, dass er von der Stelle weichen würde. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Cornelis van Neyenrode mit geneigtem Kopf auf das linke Knie gesunken war, und ich folgte seinem Beispiel. Ich hatte offensichtlich einen schweren Fehler begangen, als ich diesen anscheinend bedeutenden Mann so unverhohlen anstarrte.
Mein Beschützer lieferte sich mit dem Angreifer ein hitziges Wortgefecht, von dem ich leider nur einzelne Worte verstand. Ich schärfte meine Sinne und versuchte seine Gedanken aufzunehmen, und mir stockte der Atem. Bilder nahmen Gestalt an, die mehr als bedrohlich waren. Katakura Shigenaga beschäftigte sich schon mit dem Gedanken, dass Schwert gegen diese Männer zu ziehen. Das konnte ich nicht zulassen und wollte mich erheben, als sich eine Hand auf mein Knie legte. Es war Cornelis, der an meine Seite gerutscht war. Er hatte mich aus dem Augenwinkel beobachtet und raunte mir leise zu:
›Um Gottes willen, bleiben Sie unten! Unternehmen Sie auf keinen Fall etwas! Ihr Begleiter schützt Sie mit seinem Leben und seiner Ehre. Wenn Sie sich jetzt einmischen, eskaliert die Situation, und es kommt unweigerlich zum Kampf.‹
In der Zwischenzeit war der hochrangige Samurai herangetreten und fuhr Shigenaga in barschem Tonfall an. Aber auch wenn mein Beschützer ihm offensichtlich ehrerbietig gegenüberstand, schien er nicht bereit, seinen Platz zu räumen.
›Was haben Sie nur getan?‹, flüsterte van Neyenrode. ›Das ist der Polizeipräfekt von Edo, und jeder, der nicht mindestens seinen Rang innehat, muss vor ihm das Haupt neigen. Sie haben ihn begafft wie einen Bettler und wurden zudem noch als Ausländer erkannt. Das ist für diesen Mann eine der schlimmsten Beleidigungen, und wie Ihr Freund die Situation retten will, ist mir schleierhaft.‹
Ich zuckte bei diesen Worten wieder ein Stück nach oben, doch die Hand des Holländers drückte weiterhin auf mein Knie.
›Wenn Sie uns nicht alle zum Tode verurteilen wollen, unternehmen Sie um Himmels willen nichts. Ich habe es nicht erwartet, aber Ihr Freund hat offensichtlich ein paar Trümpfe in der Hand, die nicht zu verachten sind.‹
Die Aggressivität des Wortwechsels ließ langsam nach, und kurze Zeit später drehte sich der Präfekt um und setzte seinen Weg fort. Nachdem er sich einige Schritte entfernt hatte, holte Katakura Shigenaga tief Luft und wandte sich uns zu. Cornelis erhob sich, und ich folgte seinem Beispiel. Dabei schaute ich in das Gesicht meines Beschützers und erwartete, Wut oder mindestens Verärgerung zu