Schattenkriege. H.L. Thomas
Schattenkriege
Band 1: Jane
Deutsche Erstausgabe
Juni 2020
Copyright: © 2020 H.L. Thomas
Herausgeber: Helga Luttmann, Spillheide 77, 45239 Essen
Lektorat & Buchsatz: Petra Schmidt, www.lektorat-ps.com
Covererstellung: Henry Damaschke, www.sheep-black.com
Bildquellen: „Fotografin“ Jessica Durrant by Die Illustratoren, Umschlagfotos H.L. Thomas
Verlag & Druck: epubli – ein Unternehmen der Neopubli GmbH, Berlin
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, einschließlich der Rechte der vollständigen oder teilweisen Kopie in jeglicher Form, sind vorbehalten. Eine Verwertung ist ohne vorherige, ausdrückliche Zustimmung der Autorin unzulässig.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden, jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.
Für Mike († 01.09.2019).
Du hast mich gelehrt, meinen Traum nicht aufzugeben.
Inhalt
Intro
Geographic Magazine, 25.10.1966, Fotos u. Text: Jane Mulwray
Es ist uns beinahe zur Gewohnheit geworden, beim Abendessen Bilder eines Krieges aus einem weit entfernten Land anzuschauen. Wir sehen weitflächige Grasebenen, über die sich unsere Soldaten auf Patrouille bewegen. Dschungel, unbefestigte Straßen mit Flüchtlingen, die typischen Strohhüte auf dem Kopf. Die Bilder sind ein solch selbstverständlicher Teil unseres Lebens geworden, dass man sich kaum noch fragt, warum, wie lange, wofür.
Vietnam ist ein kleines Land am anderen Ende der Welt. Es war ein Teil von „Indochina“, dem Kolonialterritorium Frankreichs in Südostasien. Wie in allen Kolonien wollten die Menschen eines Tages Freiheit und Eigenständigkeit. Sie hatte sich gegen die französischen Kolonialherren erhoben und sie vertrieben. Die größte siegreiche Partei in den langen und grausamen Kämpfen war die der Kommunisten, die seither den Norden des Landes bis zum 17. Breitengrad beherrschen. Im Süden des Landes wehren sich die Menschen. Sie wollen die neu gewonnene Freiheit nicht aufgeben. Wir leben in einer zweigeteilten Welt, getrennt durch den Eisernen Vorhang. Wir leben in Freiheit. Auf der anderen Seite herrschen die Kommunisten, die Sowjetunion, China. Sie setzen ihre Weltanschauung brutal durch. Es gibt keine freie Meinungsäußerung, Menschen denunzieren einander, Unterdrückung, Folter, Umerziehungslager und Tod. Es muss furchtbar sein, so zu leben. Vielleicht müssen wir wirklich die Freiheit der Welt in diesem abgelegenen Land der Erde verteidigen. Vielleicht ist es auch anders.
Ich möchte die Geschichte eines Jungen erzählen, den ich in einem Flugzeug zum ersten Mal in meinem Leben begegnete. Private Richard Lee Tibbs. Neunzehn Jahre, blond, ein hübscher Junge aus guter Familie. Sehr höflich und wohlerzogen. Er machte einen sehr guten Abschluss, könnte aufs College gehen, vielleicht Anwalt werden oder Lehrer. Sein Großvater hat gedient und im Ersten Weltkrieg gekämpft, sein Vater hat gedient und im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Es hätte für seine Familie bestimmt Möglichkeiten gegeben, ihn vom aktiven Dienst freizustellen, aber es war gar keine Frage, dass Richard Lee Tibbs ebenfalls seinem Land dient. Er hat sicher viele Geschichten über Kameradschaft, Tapferkeit und Heldenmut gehört. Er fiel zwischen diesen Jungs auf, weil er anders war als sie. Es war nicht nur die Kleidung, weit entfernt von dem, was zu Hause als Uniform durchgehen würde. Es war die Haltung, die Augen. Der Umgangston war rau, selbst nach militärischem Maßstab. Es waren Kämpfer, Leute mit dem unbedingten Willen, zu überleben. Niemand, den man daheim zum Tee einladen würde.
Mir fiel auf, dass keiner der Privates mit Namen angeredet wurde. Die gängigen Anreden waren „Frischfleisch“ oder eher unfreundlich „Toter“. Ich fand das befremdlich. Die Erklärung hierfür ist drastisch. Man bindet sich nicht an Männer, die den morgigen Tag nicht überleben. Namen gibt es nach den ersten lebend überstandenen Patrouillen. Ich schluckte. Immer wieder versuchte ich zu verdrängen, dass viele der Menschen, die mich umgaben, in wenigen Tagen nicht mehr leben würden. Unwillkürlich blickte ich wieder zu Tibbs hinüber. Er passte weniger denn je hierher.
Das Land, durch das wir fuhren, ist unsagbar schön. Die Reisfelder, die Häuser auf Stelzen über dem glitzernden Wasser. Frauen mit Strohhüten beugten sich in den Feldern. Wasserbüffel zogen primitive Pflüge oder grasten friedlich vor sich hin. Alles war unglaublich grün. Ich glaube, auf dem Lkw war ich die Einzige, die das so wahrnahm. Die Männer waren angespannt. Meine Augen suchten den Horizont ab, ich sah nichts, was ich als gefährlich wahrgenommen hätte. Die Fahrt verlief ohne Zwischenfall.
Tibbs hatte während der ganzen Zeit kein Wort gesagt. Es saß einfach dort, in Gedanken versunken. Sein Gewehr war ein Fremdkörper in seiner Hand. Ich hatte ihn beim Schießtraining beobachtet. Er hatte sich alle Mühe gegeben, aber er war weder schnell noch geschickt. Ich hätte ihn lieber in Zivil beim Baseballtraining gesehen. Da sei er gut, hat er mir erzählt. Er hatte mir auch ein Bild von seiner Freundin gezeigt. Ein nettes Mädchen, blonde, glatte Haare, weiße Bluse, hochgeschlossen. Ein dunkles Haarband. Sie lächelt. Ihr Name ist Arlene. Erst als wir abstiegen, nahm Tibbs den Blick wieder hoch.
„Ma'am, lassen Sie mich helfen.“
Ich blickte über ihn hinweg, als er meine Tasche nahm, in das Gesicht seines Sergeanten. Unsere Augen trafen sich und ich glaube, wir dachten in diesem Moment dasselbe. Er wird es nicht schaffen!
Ich verbrachte den Abend bei der Mannschaft. Als ich das Zelt betrat, herrschte Totenstille. Blicke glitzerten lüstern durch dicke Schwaden von