Schattenkriege. H.L. Thomas
bereits gelernt, dass man die besser nicht zeigen sollte. Sergeant McCarthy machte schnell klar, dass ich nicht als Frau zu betrachten sei und stellte mir die Leute, meist mit ihrem Spitznamen, vor: Smitty, Mothergun, Cal, Terry, No-Balls. Die Rekruten saßen in einer Ecke, der wilde Haufen der kampferprobten Männer war ihnen genauso wenig geheuer wie mir. McCarthy deutete auf Tibbs und gab ihm den Befehl, auf mich achtzugeben. Ich war dankbar. So würde der Private nicht in der ersten Reihe stehen.
Am nächsten Morgen brachen wir in aller Frühe auf. Ich musste mich schwer zusammenreißen, denn munter war ich nach diesem Abend gewiss nicht. Die meisten der Jungs auch nicht, aber es war, als ob man einen Schalter umgelegt hätte. Der Job? Wie jeden Tag sollten sie zugeteilte Gebiete durchsuchen, aufgefundene Kampfeinheiten von Charlie vernichten, Grenzregionen kontrollieren und das Einsickern von feindlichen Truppen verhindern. Der Gegner sollte möglichst große Verluste erleiden. So wenige Männer wie möglich wurden abgesetzt, um Feindkontakt herzustellen, dann forderten sie Luftunterstützung an. Diese würde durch massives Feuer so viel Schaden wie möglich anrichten. Man nennt diese Strategie „search and destroy“.
Mothergun, ein riesenhafter Hüne, hatte dort mit seiner Waffe, Kaliber 42, Position in der offenen Tür der Bell eingenommen. Wie er freuten sich etliche der Männer auf den Einsatz, um Charlie zu töten. Sie zeigten einander Bilder, die sie geschossen hatten, oder Trophäen wie zum Beispiel abgeschnittene Ohren. Ich kannte so etwas von Anglern oder Jägern. Nur, dass hier die erlegte Beute Menschen waren. Abscheu und Fassungslosigkeit stiegen in mir auf. Ich hatte Gerüchte über Kriegsgräuel gehört. Jetzt sah ich, dass sie von Männern begangen wurden, mit denen ich abends zuvor gefeiert hatte. Die selbst Frauen und Kinder hatten. Das passte nicht in mein Weltbild. Dass es notwendig sein würde, in einem Krieg Menschen zu töten, das war klar. Aber diese Begeisterung? Ich war angewidert. Sie hatten kein Problem damit, mit ihren Trophäen fotografiert zu werden. Der Krieg macht Bestien aus uns allen. Das Zitat stimmte. Niemand sagt so etwas zu Hause in den Nachrichten. Den Leuten könnte ja das Abendessen im Halse stecken bleiben.
Die Öffentlichkeit muss wissen, was der Krieg aus Menschen macht, die als Kfz-Mechaniker, Lagerarbeiter, Familienväter, Söhne, Brüder hierhergekommen waren! Ich werde damit nicht hinter dem Berg halten.
Ich hatte wenig Zeit, darüber nachzudenken, weil kurz darauf etwas in die Seitenwand einschlug. Ich realisierte verblüffend langsam, dass wir beschossen wurden. Der Hubschrauber drehte eine Kehre. Wir sahen fast senkrecht auf das satte Grün des Reisfeldes unter uns. Neben mir brüllten die 42er-Kalibergeschosse, die Mothergun auf alles feuerte, was sich dort unten bewegte. Die Männer setzten sich auf ihre Helme. Ich tat es ihnen gleich. Tibbs sah uns verwundert zu.
„Warum?“, fragte er mich.
„Ich erkläre es dir später. Setz dich auf den verdammten Helm!“
Ich sah ihm zu. In diesem Augenblick wusste ich, was der Sergeant gemeint hatte. Private Tibbs würde nicht als strahlender Held nach Hause zurückkehren.
Der Sergeant brüllte, wir müssten abspringen, zwei Meter über dem Boden. Tibbs zögerte. Ich hielt ihm meine Hand hin.
„Helfen Sie mir, Private!“
Er überwand seine Angst. Er musste tapfer für eine Lady sein. Wir warfen uns auf den Boden. Außer Tibbs. Er blickte über das Grasland, als müsse er sich orientieren. Ich riss ihn runter. Das war sicher nicht mein Job, aber ich wollte ihn nicht sterben sehen. Das mannshohe Gras verdeckte Freund und Feind. Der Beschuss hatte aufgehört. Wir rückten vor, das Adrenalin hämmerte unter die Schädeldecke. Der Feind war unsichtbar.
Wir erreichten den Rand des Waldes. Dschungel. Dunkel, grün, nass, exotisch, unbekannt. Wir waren bis auf die Knochen nass, aber daran gewöhnt man sich. Entweder schwitzt man, es regnet oder die Blätter, die man streift, durchnässen einen. Es ist nicht kalt, deshalb ist es irgendwann egal.
Ein schmaler Pfad schlängelte sich durch das Dickicht, aber wir gingen daneben durch das Unterholz, im Gänsemarsch in die Fußspur des Vordermanns tretend.
Die Schritte werden mühsam, wenn man die Füße aus dem sumpfigen Unterboden hochziehen muss. Schlingpflanzen, in denen man hängen bleibt. Krabbeltiere in Mengen, Mücken. Du verlierst das Zeitgefühl. Du schleppst dich nur noch weiter, weil du musst. Du wirst unaufmerksam für deine Umgebung. Du wirst zur Beute. Der Dschungel ist auf der Seite des Feindes.
Mir wurde klar, warum wir nicht auf dem Weg gingen, als mir einer der Männer Fallen zeigte. Ich hätte sie nie bemerkt. Angespitzte Bambusstäbe, mit Büffelmist oder Leichengift beschmiert und ein wenig Erde bedeckt. Geht durch jede Sohle. In diesem Klima tödlich. Schmale Drähte, die angespitzte Pfeile vorschnellen lassen. Man darf nicht darüber nachdenken, wie viele Männer diese Erfahrung mit Leib und Leben bezahlt haben. Dafür ist keine Zeit und die Aufmerksamkeit lässt nach.
Das Terrain wurde weniger dicht. Vermutlich war ein Dorf ganz in der Nähe. Die Anspannung stieg. Ein kurzes, scharfes Geräusch, einer der Männer schrie auf und ging zu Boden. Die Hölle brach los.
Befehle wurden gebrüllt. Das Knattern der MPs, Blätter wurden zerfetzt. Tibbs stand neben mir, zur Salzsäule erstarrt. Sein AK 14 schussbereit im Anschlag, vollkommen paralysiert. Ich riss ihn runter zu mir in Deckung und sah in seinem Gesicht, dass er mich überhaupt nicht wahrnahm. Es ging alles so schnell, dass ich nicht mehr genau weiß, was passiert ist. Ich hatte sein Gewehr in der Hand. Ich glaube, ich habe geschossen. Ob ich getroffen habe? Bäume und Blätter bestimmt. Den Feind sahen wir nicht. Er war eins mit der Umgebung. Es hörte genauso schnell auf, wie es angefangen hatte.
Ich schaute neben mich auf den Boden. Tibbs war weg. Ich hatte sein Gewehr immer noch in der Hand. Der Sergeant rief die Leute zusammen. Auch wenn das Frischfleisch kein hohes Ansehen genießt, sie würden Tibbs nicht zurücklassen. Wir suchten eine Weile ohne Erfolg. Es gab in unmittelbarer Nähe zu viele Kampfspuren, um deuten zu können, in welche Richtung Tibbs gelaufen war. Dann hörten wir Schreie, unmenschliche Schreie voller Qual. Es war Tibbs. Er schrie nach seiner Mutter.
So schnell es ging, rückten wir vor. Wir wurden nicht beschossen. Sie wollten, dass wir ihn finden. Auch Charlie, die Kämpfer des Vietcong, versteht etwas von psychologischer Kriegsführung. Etwa fünfhundert Meter südlich von der Lichtung gab es ein Dorf. Die Hütten waren verlassen, rauchgeschwärzt. Auf dem Dorfplatz hatten sie ihn zwischen Bambusstäben aufgespannt. Die Stöcke waren durch Hände und Füße getrieben worden und dann hatte man die Seile straffgezogen. Über dem Bauch verlief ein großer Schnitt und die Gedärme quollen hervor. Er schrie ununterbrochen vor Schmerzen. Der Sergeant bedeutete vier der Männer, ihn loszumachen. Es war offensichtlich, dass sie so etwas nicht das erste Mal sahen. Es war das erste Mal, dass ich so etwas sah. Man ist nicht vorbereitet auf so etwas. Entsetzen, Fassungslosigkeit, Hilflosigkeit, Trauer, Wut. Die Tränen liefen mir über das Gesicht. Die Schreie von Tibbs hörten auf.
Wir brachten ihn zurück. Einer der Jungs, die in einem Sarg mit der Flagge darauf zu ihren Eltern zurückkehrten. Er hätte Anwalt werden können, Baseballprofi oder Vertreter. Er hätte mit Arlene Kinder haben und ein zufriedenes Leben in der Vorstadt führen sollen. All dies wird nicht passieren. Er war anders. Er hatte von Beginn an ein unsichtbares Mal. Es ist das Schicksal mancher Menschen, zu verlieren. Er hätte nicht sterben müssen.
Sein Tod wurde zu einer sehr persönlichen Erfahrung für mich, weil ich ihn, seine Hoffnungen und Wünsche kannte. Weil er einen Namen hatte. Ich verstand auf einmal den Sergeanten und seine Leute. Warum sie den Frischlingen keine Namen gaben. Warum sie ihre Abende betäuben mit Drogen, Alkohol, Mädchen. Wie viele solche Erfahrungen kann ein Mensch ertragen, bevor alle Werte der Humanität umschlagen in Rache, Wut und Hass? Welches Ziel ist einen solchen Preis wert? Meine Fragen sind mehr geworden, nicht weniger.
***
„Süße, ich bin wirklich stolz auf dich. Der erste Artikel mit deinem Namen darunter. Mach weiter so, ich glaube, du wirst es weit bringen!“
Billy Henderson reichte Jane das Magazin über den Tisch und grinste über das ganze Gesicht.
Er hatte die Kleine vor ein paar Wochen bei einer Party kennengelernt. Es hatte gefunkt zwischen ihnen und er war ziemlich