Schattenkriege. H.L. Thomas
Angriff war erst mal gestoppt, weil der Mann damit beschäftigt war, sich die Nase festzuhalten. Den anderen holte sie mit einem sauberen Kick von den Füßen. Sie hatte keine Zeit mehr, sich weiter um ihn zu kümmern, denn sie sah, wie der dritte Kerl Anstalten machte, den Sergeanten mit dem Messer anzugreifen.
Jones war völlig perplex über ihren plötzlichen Angriff. Als er überrascht herumwirbelte, sah er gerade noch, wie sein „Job“ mit einem sauberen Roundkick zwei Soldaten auf den Boden schickte. Dann erst realisierte er die Gefahr, in der er schwebte. Der GI stand mit dem Messer in der Hand vor ihm und stach von unten in Richtung seines Bauches. Scheiße, das passt nicht mehr, ging es ihm durch den Kopf. Er würde den Stich nicht abwehren können. Aus, das Heimticket, war sein nächster Gedanke, als Jane mit beiden Füßen voran in den Brustkorb des Mannes einschlug, wie ein verfluchter Marinetorpedo. Der Typ krachte nach hinten über, Jane sprang auf seinen Brustkorb und bearbeitete sein Gesicht mit eins, zwei, drei, vier, fünf beidhändigen schnellen Faustschlägen. Das war eindeutig eine asiatische Kampfart.
„Das reicht! Aufhören!“ Mist, sie hörte nicht auf. Sie würde den Kerl umbringen. Nicht, dass er es bedauern würde. Sergeant Trevor Jones, von vielen Tank genannt, zog sie von dem Soldaten runter, der Uniformstoff ihrer Jacke riss auf, so tobte sie. „Schsch…, Mädchen. Alles ist gut, niemand tut dir was“, flüsterte er in ihr Ohr, während er sie fest gepackt hielt.
Sie sackte zusammen und verlor fast augenblicklich das Bewusstsein. Was zur Hölle war hier vorgefallen? Er hatte noch nie eine Frau so kämpfen sehen. Er würde sie auch nie wieder als Reporter-Tussie titulieren, schwor er sich. Sie hatte ihm gerade den Arsch gerettet.
Im Lazarett von Saigon stellten sie dutzende Prellungen, Schürfwunden und leichte Verbrennungen fest. Jane Mulwray hatte eine ziemliche Menge Amphetamine genommen. So ein Zeug, das die Soldaten oft dabeihatten, um die Müdigkeit zu unterdrücken. Vermutlich hatte sie mehrere Tage nicht geschlafen. Dass sie im Dschungel nicht schlafen wollte, konnte Jones nur zu gut verstehen. Die Nacht gehört Charlie. Vor allem in der Gegend, wo er sie aufgetrieben hatte. Ein Wunder, dass sie bei der ganzen Aktion nicht draufgegangen war. Er hatte versucht, herauszufinden, was sich abgespielt hatte, bevor ihm Miss Mulwray mehr oder weniger in die Arme gestolpert war. Es hatte einen Einsatz gegeben. Im Dorf hatte man angeblich Kämpfer des Vietcong versteckt. Die Lage war außer Kontrolle geraten. Miss Mulwray war mit einem zweiten Fotografen dort gewesen. Der Mann war im Kampfgetümmel scheinbar erwischt worden. Man hatte ihn bereits ausgeflogen, in einem Leichensack, wie der Kommandant versicherte. Eine der Kameras, die Miss Mulwray dabeihatte, wies ein Einschussloch in der Linse auf. Er hatte den Film entwickeln lassen. Die Bilder zeigten tatsächlich einen Strafeinsatz. Die Soldaten hatten selbst Kinder und Hühner nicht verschont. Wenn diese Fotos an die Öffentlichkeit geraten würden, bekäme der gesamte Zug eine Anklage wegen Kriegsverbrechen. Die Sache war vermutlich ganz einfach. Jemand hatte den Fotografen, vermutlich Henderson, erschossen, während er die Bilder machte. Mulwray war abgehauen. Es sprach für ihre außerordentlichen Überlebensreflexe, wenn sie diese Jagd ein paar Tage durchgehalten hatte.
Sein Vorgesetzter äußerte sich immer noch nicht, ob die Lady jetzt zu verhaften war oder nicht.
„Bleiben Sie da, bis sie aufwacht.“
Das hatte Jones getan. Vier Tage lang.
***
Langsam erwachte Janes Geist aus der Tiefe der Bewusstlosigkeit. Es war kein gnädiger Zustand gewesen, eher ein ziemlich lang andauernder Albtraum. Immer wieder hatte sie die Bilder vor Augen gehabt. Den Befehl von Ltd. Hunter in den Ohren, der nur den Gedanken an die nächste Belobigung wegen seines tollen Body-Counts im Kopf hatte. Er war einer dieser Männer, die aufgrund ihrer Gewalttätigkeit vermutlich zu Hause im Knast gelandet wären. Hier konnte er seine Gelüste frei austoben und bekam obendrein eine Belobigung. So etwas wie Kontrolle schien es nicht zu geben. Wer in seiner Gruppe überleben wollte, stellte besser keine Fragen und versuchte, sein Gewissen so bald wie möglich abzustellen.
Fassungslos hatten sie und Billy gesehen, wie die Männer losgingen und alles umbrachten, was ihnen ins Blickfeld kam. Frauen, Kinder, Babys, selbst die Haustiere, wirklich alles. Sie fotografierten. Wie man in einem solchen Moment Bilder machen konnte, das hatte sie in den Monaten gelernt, die sie jetzt hier waren. Sie hielt einen Moment inne, als sie den Scharfschützen sah. Der Mann beteiligte sich nicht an dem Massaker. Ganz kühl zielte er in ihre Richtung. Sie drehte sich um, blickte hinter sich in der Erwartung, dass jemand hinter ihr und Billy sein musste. Nein, niemand da. Ihr Gehirn realisierte gerade, dass sie beide das Ziel waren, da kippte Billy schon nach hinten weg. Kein Schrei. Kein Knall. Blut schoss aus seinem Auge, durch das die Kugel in seinen Schädel eingedrungen war. Entsetzen auf seinem Gesicht. Sie blickte zu dem Schützen, der hatte das Gewehr noch im Anschlag. Sie würde die nächste sein. Ihr Überlebensinstinkt übernahm die Kontrolle. Sie entriss Billy die zerschossene Kamera und rannte. Der Dschungel verschluckte sie schnell. Nicht auf den Wegen laufen. Sie würden sie verfolgen, bestimmt. Der Rest war ein Inferno aus nassem Blattwerk, nassem Boden, glitschigen Wurzeln. Sie glitt auf dem schlammigen Untergrund aus, rappelte sich hoch, rannte weiter, tiefer ins Unterholz. Sie hörte Stimmen hinter sich, sie riefen nach ihr.
Jane lief immer weiter in den Dschungel. Sie hatte vollständig die Orientierung verloren. Irgendwann kroch sie erschöpft unter tiefes Blattwerk. Es wurde dunkel. Im Dunkeln würden die Männer nicht weiter suchen. So hoffte sie zumindest.
Sie wusste nicht mehr, ob sie geschlafen hatte und, wenn ja, wie lange. Sie fand noch einige Kekse aus der Armeeverpflegung in den Taschen ihres Overalls. Die Dinger waren so hart, dass sie selbst in der feuchten Schwüle noch nicht aufgeweicht waren. Gierig verschlang sie das trockene Zeug. Ihre Wasserration ging drauf, um es runterzuwürgen. Sie verlor das Zeitgefühl. Sie hatte Angst vor jedem Knacken. Meist war sie es selbst, aber sie erwartete jedes Mal, in das Gesicht eines Soldaten oder eines Vietcong zu blicken. Ihre Kleidung war vollkommen durchnässt, verdreckt und zerrissen. Ihr tat jeder Knochen einzeln weh, aber es half nichts, sie musste weiter. Irgendwann wurde es heller, der Wald weniger dicht. Sie hörte das Geräusch eines Hubschraubers. Eine Bell ratterte tief über Wipfel. Vielleicht hatte sie Glück und das war die Rettung, vielleicht auch nicht.
Sie stolperte aus dem Dickicht, als sie die Soldaten der 11. Infanterie erblickte. Sie sah das dreckige Grinsen in ihren Gesichtern. Sie hatte das Sirren der Kugeln gehört, dann war sie gerannt.
Jetzt nahm sie den stechenden Geruch von Desinfektionsmitteln wahr. Sie spürte ein dünnes, glattes Laken auf ihrem Körper. Sie war in einem Krankenhaus. Dann hatten die Kerle sie wohl nicht erwischt. Sie entschloss sich, die Augen zu öffnen. Ein Mann lehnte an der Wand und blickte aus dem Fenster. Er trug Uniform und eine Binde am Arm, die ihn als Militärpolizisten auswies. Ja, der Militärpolizist, sie erinnerte sich vage an ihn. War er es gewesen, der sie rausgebracht hatte? Er schien darauf gewartet zu haben, dass sie aufwachte, denn er drehte sich in diesem Moment um. Sie musterte ihn eingehend. Er war sehr groß, schlank, sehnig. Dunkle Haare, sonnengegerbtes, offenes Gesicht, dunkelbraune Augen. Sehr schöne Augen. Er sah überhaupt ziemlich gut aus.
„Wer sind Sie und wo bin ich?“
„Sergeant Trevor Jones, Militärpolizei Saigon. Ich habe Sie gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Mein Gott, Lady, in was für eine Scheiße sind Sie da geraten?“
Als er sich vorstellte, bemerkte sie, dass ihr auch seine Stimme gefiel. Etwas rauchig, überraschend dunkel, von seiner Aussprache her tippte sie auf Mittelwesten. Irgendwie hatte sie das Gefühl, diesem Mann vertrauen zu können.
Die fürchterlichen Ereignisse der letzten Tage sprudelten nur so aus ihr heraus. Er unterbrach sie nur zweimal. Einmal, um zu fragen, ob sie ganz sicher war, dass die eigenen Leute ihren Begleiter, diesen Henderson erschossen hatten. Das zweite Mal wollte er wissen, in welcher Beziehung sie zu ihm gestanden hatte.
Ja, sie war ganz sicher, dass der Scharfschütze zum Platoon gehört hatte. Das Gesicht hatte sie leider nicht erkannt. Er hatte es mit Tarnfarbe beschmiert.
Ihre Beziehung zu Billy Henderson? Sie blieb einen Moment stumm. Sie hatte Billy vor knapp einem Jahr auf einer Party kennengelernt und sich Hals über Kopf in diesen Abenteurer