Wenn Luftschlösser flügge werden. Marie Lu Pera
er noch lebt – meldet sich die fiese Stimme in meinem Inneren zu Wort.
Sie sehen mich stirnrunzelnd an als ich zu ihnen aufschaue, nachdem sie nicht gleich etwas erwidern. Jetzt schluckt das schon, das klingt doch plausibel.
Einer der Typen schnappt sich eine Gurke und beißt herzhaft rein. Ohne Essig sind die eklig, was er auch gerade checkt und sie fast würgend wieder ausspuckt. Ich muss mir ein dämliches Grinsen verkneifen, das mir beim nächsten Gedanken gleich wieder vergeht.
„Wissen Sie, wie es Adam geht?“, will ich wissen.
„Er wurde operiert und schwebt wohl noch in Lebensgefahr. Sagen sie uns zumindest. Manchmal übertreiben die Ärzte auch, um uns hinzuhalten, damit wir ihn nicht gleich befragen können. Zur Schonung sozusagen. Aber selbst wenn er bald zu sich kommt, ist es nicht sicher, ob wir mit seiner Hilfe den Unfall rekonstruieren können. Manchmal lässt einen der Schock alles vergessen oder das Erinnerungsvermögen wird absichtlich – sagen wir mal so – unterdrückt. Uns bleibt womöglich nur deine Aussage“, informiert mich Dick. Erneut schwingt routinemäßige Gleichgültigkeit in ihren Worten mit, die mir die Galle hochsteigen lässt.
„Ist dir noch etwas eingefallen, was uns dabei helfen könnte?“, fordert Doof mit etwas angewidertem Blick in Richtung der Gurken.
Ich schüttle den Kopf. „Wieso ist meine Aussage so wichtig? Es war ein Unfall. Punkt“, wende ich ein.
„Es geht um die Versicherung und ob sie alles bezahlt, wenn der Junge Spätfolgen zurückbehalten sollte. Pflegepersonal ist teuer. Die wollen sich absichern. Womöglich wollen die auch noch mit dir sprechen.“ Was? Pflegepersonal? Heißt das, er könnte … körperlich behindert sein? Oder schlimmer – geistig behindert. Mir bleibt fast das Herz stehen. An das habe ich gar nicht gedacht. Sein Gehirn könnte Schaden genommen haben. Selbst wenn er aufwacht, könnte er … verändert sein.
Womöglich war ich nicht schnell genug bei ihm oder hab die Reanimation vergeigt. Mir das vorzustellen nimmt mich grad total mit. Sogar die Gurken schaffen es, an mir vorbeizuziehen. Die Arbeiterin, die neben mir steht, hat grad alle Hände voll zu tun, was sie mit einem bösen Blick und einem „Hey, pass doch auf!“ in meine Richtung kundtut.
Im nächsten Moment verabschieden sich Dick und Doof glücklicherweise.
„ROSE!“, brüllt der Vorarbeiter, was mich zusammenzucken lässt. „Du sollst Gurken stopfen – nicht Löcher in die Luft starren. Und wenn hier nochmal die Kavallerie auftaucht, bist du deinen Job los, haben wir uns verstanden?“
Wie lange hänge ich eigentlich schon meinen Gedanken nach? Ich hab gar nicht gemerkt, dass das Gemüse die ganze Zeit über spurlos an mir vorübergezogen ist.
Kapitel 2
Zwölf Monate später
Wie jeden Tag, werfe ich die Hausaufgaben für Adam in den Briefkasten der Laurrens. Scheinbar ist der beliebteste Junge der Schule wohl Geschichte, denn keiner seiner „Besten Freunde“, die immer an seinen Sohlen klebten, als wären sie zäher Kaugummi, der nicht mehr abgeht, hat sich freiwillig gemeldet, ihm seine Schulsachen zu bringen, als der Direktor das erste Mal darum gebeten hat. Was meinen Arm dazu gebracht hat, genau in dem Moment hochzuschießen, ist mir immer noch ein Rätsel. Womöglich hab ich mich daran erinnert, dass ich sowieso jeden Tag an ihrem Haus vorbeifahre, um nach Hause zu kommen und das doch wirklich keine große Sache ist, ein paar Blätter mit Mathe- oder Bioaufgaben vorbeizubringen.
Adam wird von einem Privatlehrer unterrichtet – ist zumindest die offizielle Version. Inoffiziell wird gemunkelt, dass er nicht mehr das Haus verlassen hat, nachdem er aus dem Krankenhaus raus war, aber es dringen kaum nähere Infos nach draußen. Was echt erstaunlich ist, denn in diesem Kaff im Norden Arizonas bleibt sonst nichts lange geheim.
Womöglich erkaufen sich die Laurrens das Schweigen der Lehrerschaft mit großzügigen Schulspenden. Das hat natürlich die Gerüchte angefacht wie eine Kippe, die auf vertrockneten Waldboden trifft.
Aber auch die Schauergeschichten darüber, dass er von einer Hexe verflucht und so wie in dem Film „Beastly“ schrecklich entstellt ist oder sein Gedächtnis verloren hat und nicht mal mehr seine Eltern wiedererkennt, sind mit der Zeit abgeflaut.
Schon bald hat ein neuer Rebell, der ebenso alle Klischees erfüllt, Adams Platz eingenommen und kaum jemand spricht noch von dem einst so umschwärmten Basketballstar, der plötzlich von der Bildfläche verschwunden ist.
Bei dem Gedanken innerlich tief seufzend, will ich mich gerade wieder aufs Rad schwingen, da ruft jemand von Weitem meinen Namen. Der Geruch nach Sandelholz mit diesem Schuss Zitrone erreicht mich, bevor es sein Träger schafft.
Es ist Adams Mum, die mich wohl in einer ihrer Überwachungskameras am Tor erspäht hat. Verdammt, jetzt kann ich nicht mehr so tun, als hätte ich sie nicht gehört, da ich so richtig schön in ihre Richtung gekuckt habe. Normalerweise ist das Tor ihrer Villa mit hohen Efeuranken verwachsen, die es unmöglich machen, hindurch zu spähen und einen Blick auf das Leben zu erhaschen, das die meisten nur aus Realityshows kennen, doch der nahende Winter nagt schon an dem Blätterteppich und lässt ihn schütter werden.
„Rose, warte doch einen Moment“, ruft sie mir winkend zu, während sie die Auffahrt entlangstöckelt. Na toll.
„Du bist das also, der Adam die Hausaufgaben bringt“, stellt sie um einiges versöhnlicher fest, als bei unserer letzten Begegnung im Krankenhaus, nachdem sie bei mir angekommen ist.
Sie sieht toll aus. Mit ihren blonden, hochgesteckten Haaren und diesen noblen Klamotten könnte sie auch glatt einem dieser 50iger Jahre Hausfrauenmagazine entsprungen sein. Ich stell mir gerade vor, wie sie in den hohen Haken mit dem Staubsauger posiert, während sie den Staubwedel aus Straußenfedern schwingt und ein „Schatz, ich hab Rollbraten gemacht“ trällert.
Schnell vertreibe ich die Bilder aus meinen Gedanken. „Ich gestehe alles, immerhin haben Sie mich auf frischer Tat ertappt“, spotte ich.
„Wieso bist du denn um diese Zeit nicht zu Hause bei deiner Familie?“, fragt sie durch die massiven Gitterstäbe hindurch, die ihren Schotter drin und Leute wie mich draußen halten sollen.
„Wollte sowieso noch eine Spritztour machen“, antworte ich schulterzuckend.
Sie lächelt gekünstelt. „Komm doch rein. Wir essen gerade“, bietet sie an. Nein danke. Kein Bedarf an Verlegenheitseinladungen, weil ich – Wohltäter wie ich bin (schön wärs) – ihrem Sohn die Hausaufgaben bringe.
„Das ist sehr freundlich, aber ich kann die Einladung nicht annehmen, Misses Laurren. Schönen Tag noch“, spule ich meinen Text ab und will mich schon vom Acker machen, da hält sie mich mit den Worten: „Adam würde sich freuen, wieder einmal jemanden aus der Schule zu sehen“ zurück.
Ich werde hellhörig. Okay, also stimmt das Gerücht, er wäre auf das geistige Niveau eines Säuglings zurückgefallen und würde erneut ein Leben mit Lätzchen und Schnabeltasse fristen schon mal nicht. Zumindest hoffe ich das. Immerhin war ihre Wortwahl irreführend. Er würde sich „freuen“, wieder einmal jemanden aus der Schule zu „sehen“ heißt ja nicht automatisch, dass er mich wiedererkennt oder mit mir sprechen kann. Womöglich freut er sich nicht mal.
Ich weiß außerdem nicht, ob ihr klar ist, dass Adam und ich nie befreundet waren – obwohl, wenn sie meine Klamotten ansieht und ihre, liegt der Verdacht wohl nahe. Mit Leuten wie mir hätte er sich nie abgegeben.
Meine Jeans hat ihre besten Momente schon hinter sich und das T-Shirt ist mir drei Nummern zu groß – ja, okay – vier Nummern. Die Weste mit den löchrigen Maschen wird dem Used-Look wohl auch schon gerecht. Zu meiner Verteidigung – wer rechnet denn damit, dass ich heute noch auf zivilisierte Menschen treffe. Sollten die nicht alle in Feiertagslaune ihre Truthähne beschneiden?
Obwohl, neugierig wär ich schon zu erfahren, wies Adam wirklich geht. Aber bin ich dafür bereit?