Wenn Luftschlösser flügge werden. Marie Lu Pera

Wenn Luftschlösser flügge werden - Marie Lu Pera


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ich hier stehe und schon viel zu lange Pro und Kontra abwäge.

      „Ich muss jetzt wirklich los“, winke ich halbherzig ab.

      „Ach Papperlapapp. Ich bestehe darauf. Es ist doch Thanksgiving“, lässt sie nicht locker. Sie ist aber auch die Einzige, die den Feiertag wörtlich nimmt.

      „Ich akzeptiere kein Nein“, droht sie förmlich. Ha, dann weiß ich jetzt, dass Adam ganz nach seiner Mum kommen muss.

      Ihr Angebot ist ganz schön verlockend. Mein Magen knurrt schon, da brauch ich bloß an den knusprigen Truthahn zu denken, den es bei uns nicht jedes Jahr gibt. Das war so abartig laut, dass sie sogar die Augenbrauen hochzieht. Wie peinlich ist das denn?

      „Okay“, stimme ich dem Drängen meines Magens zu und breche alle meine selbst aufgestellten Regeln Almosen betreffend. Jeder weiß, dass meine Familie nicht so viel Geld hat wie die meisten, die hier leben, obwohl wir zur Mittelklasse gehören. Damit werde ich ständig aufgezogen.

      Und ich vermute mal, dass die Laurrens wegen der Szene im Krankenhaus ein schlechtes Gewissen haben und nur nett sind, um sich selbst auf die Schulter zu klopfen, dass sie eine gute Tat vollbracht und den Streuner aus den, verglichen mit ihrem Lebensstil, ärmlichen Verhältnissen gefüttert haben. Andererseits hat der Streuner aus den ärmlichen Verhältnissen echt Kohldampf.

      Das Tor öffnet sich im nächsten Augenblick und gibt den ungetrübten Blick auf das Anwesen frei. So wohnen also Vertreter der oberen Zehntausend. Also ein Vertreter der unteren Hunderttausend ist schon mal beeindruckt.

      Ich folge ihr die lange Auffahrt entlang und schiebe das Fahrrad neben mir her. Das unangenehme Schweigen, das zwischen uns herrscht, wird nur vom melodiösen Quietschen meines Rades unterbrochen.

      Sie schwebt förmlich die Stufen der Villa empor, nachdem ich mein Rad – mangels Fahrradständer – an eine Statue gelehnt habe. Kurz habe ich Angst, sie könnte eine dieser Roboter-Stepford-Frauen sein, verwerfe den Gedanken aber sogleich, da ich die Laufmasche in ihrer Strumpfhose erspähe, die mir Halt gibt. Bin ich froh.

      Sie öffnet die Haustür und bittet mich mit liebevoller Geste herein. Schlagartig komme ich mir wieder wie ein Fremdkörper vor, der ganz und gar nicht in diese schöne Umgebung passen will. Zumindest wenn dann nur als Putzfrau – nicht als Gast.

      Wow, jetzt weiß ich, wie es aussieht, wenn Geld keine Rolle spielt. Der Marmorboden ist so auf Hochglanz poliert, als bestünde er aus purem Eis. Und ich hab meine Schlittschuhe nicht dabei.

      Eine riesige, geschwungene Holztreppe mit zwei Treppenaufgängen führt in den obersten Stock, der mit Sicherheit keine Wünsche offen lässt.

      Blitzschnell trete ich mir die Schuhe von den Fersen, um hier bloß nichts dreckig zu machen. Dabei atme ich flach, weil ich befürchte, meine bloße Anwesenheit würde dem Raum seinen Glanz nehmen.

      „Oh, die Schuhe hättest du anlassen können. Hier entlang“, reißt sie mich aus dem Anschmachten ihres Zuhauses. Das sagt sie nur, weil sie hinterher nicht selbst saubermachen muss. Bestimmt hat sie dafür Personal. Ich zieh sie trotzdem nicht wieder an.

      Sie führt mich in ein riesiges Speisezimmer, in dem Adams Dad, sein älterer Bruder, der früher auch an der Schule war, bevor er seinen Abschluss gemacht hat, und eine wunderhübsche, junge Frau – vermutlich die Freundin von Adams Bruder, die mir soeben einen Wer-hat-den-Streuner-reingelassen-Blick zuwirft – bei Tisch sitzen.

      „Noch ein Gedeck“, verlangt Adams Mum von einem der zwei Butler, die sich am Rand der Tafel bereithalten, den Privilegierten jeglichen Wunsch von den Augen abzulesen. Wahnsinn, die haben sogar Diener. Ist Sklaverei nicht illegal? Egal.

      „Seht, wer gerade Adams Hausaufgaben vorbeigebracht hat“, zieht sie die Aufmerksamkeit vom Essen auf mich ab.

      Im nächsten Moment erspähe ich auch Adam – zumindest seinen Wuschellocken-Hinterkopf – den ich zuvor wohl übersehen hatte, denn er sitzt abseits am Kopf der langen Tafel, einige Meter von der anderen Seite entfernt, wo seine Familie sitzt.

      Sekundenlang kann ich nur auf seinen Rücken starren. Er sitzt im Rollstuhl, was mich grad absolut fertig macht.

      „Fröhliches Thanksgiving“, wünsche ich, nachdem ich den Blick von Adam losreißen konnte, was ein bisschen gedauert hat. Adam reagiert nicht.

      Stattdessen schießt Mister Laurren hoch und begrüßt mich händeschüttelnd. Mann, hat er etwa Angst, ich verklage sie, weil sie mich nach Adams Unfall im Krankenhaus fertiggemacht haben? Nein, unwahrscheinlich, denn er hat gerade meinen nackten, großen Zeh bestaunt, der aus meiner linken Socke ragt. Das räumt sicher jeden seiner Zweifel aus, dass ich mir einen Anwalt leisten könnte – zumindest nicht in diesem Leben.

      Adams Bruder Richard begrüßt mich als nächstes. Seine Freundin, die er als Anne vorstellt, nickt nur unterkühlt. Auch sie geht auf meine Schule, ist aber in einer der höheren Klassen. Ich wusste gar nicht, dass die zwei zusammen sind.

      Misses Laurren bietet mir einen Platz gegenüber von Anne an. Etwas zögerlich mache ich mich auf den Weg – vorbei an Adam, der seinen Kopf die ganze Zeit über tief hängen lässt, sodass sein Kinn fast seine Brust berührt. Vor ihm steht ein unangetasteter Teller mit Essen.

      Obwohl der Tisch sich unter den Köstlichkeiten, die aufgetürmt dastehen, förmlich biegt, sieht er abgemagert aus und seine Haut ist bleich wie die eines Vampirs. Man sieht ihm an, wie fertig er ist. Naja, ich weiß, dass er sechs Monate im Koma lag und nun augenscheinlich im Rollstuhl sitzt. Da würde sich jeder beschissen fühlen. Ob sein Kopf was abgekriegt hat?

      „Hi, Adam“, grüße ich ihn, aber er reagiert nicht mal. Schlechtes Zeichen.

      Seine Eltern werfen mir so einen entschuldigenden Blick zu und erklären: „Adam ist von der Hüfte an querschnittsgelähmt.“ Sofort zieht sich mein Magen krampfhaft zusammen und diesmal ist nicht das Hungergefühl daran schuld.

      Man merkt, wie nahe es ihnen geht, das Offensichtliche auszusprechen. In ihren Gesichtern zeichnen sich Scham, Sorge und Probleme, das zu akzeptieren, was ihrem Sohn passiert ist, gleichermaßen ab. Was sie sich in dem Moment wohl fragen? Warum ist unserem Kind das passiert oder womit haben wir das verdient?

      Okay. Jetzt reiß dich zusammen, Rose. Kopf hoch. Von der Hüfte an querschnittsgelähmt. Das heißt doch, er kann Oberkörper, Arme und Kopf bewegen. Oder? Naja, ich bin kein Arzt.

      Zu gerne würde ich erfahren, ob er auch andere, bleibende Schäden davongetragen hat, worüber sie nicht sprechen, aber ich trau mich nicht, danach zu fragen. Was soll ich denn sagen? Ist er geistig behindert? Kapiert er, was um ihn herum abläuft? Braucht er eine Schnabeltasse und ein Lätzchen?

      Stattdessen schweige ich einfach und ertrage diese beinahe erdrückende Stimmung, die sich ausbreitet und den ganzen Raum zu vereinnahmen scheint als würde ein eisiger Hauch der Klimaanlage herabrieseln. Ich tausche mit Richard Blicke aus, der unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her rutscht und sich räuspert. Er spürt die eisige Stimmung wohl auch. Kunststück. Ist ja kaum zu ertragen.

      Gerade merke ich, wie unglaublich ähnlich er seiner Mutter sieht. Aber die Mandelaugen und die Locken haben ihre Söhne allesamt von ihrem Dad geerbt.

      Der Butler schiebt mir einen leeren Teller unter die Nase. „Greif zu“, ist dann das Startsignal und ich lade ordentlich Essen auf.

      „Wieso sitzt Adam im Abseits?“, will ich mit vollem Mund wissen, bevor mir auffällt, dass das ja eigentlich schlechte Manieren sind.

      „Er möchte es so“, antwortet sein Vater. Aha, also kann sich Adam doch irgendwie bemerkbar machen und kommunizieren. Da ich keinen Sprachcomputer, Babyspielzeug oder Ähnliches an dem Rollstuhl entdecken kann, gehe ich mal davon aus, dass er keine Schnabeltasse braucht und okay ist. Ich sehe zu Adam rüber, der sich immer noch nicht vom Fleck gerührt hat.

      „Adam Schatz, iss doch etwas“, säuselt seine Mum total verunsichert.

      Er antwortet ihr nicht mal. Sie scheinen das einfach so hinzunehmen und tun so, als ob das nicht passiert


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