Ymirs Rolle. Gisela Schaefer
Ymir verwirrt. Wieso war es plötzlich wichtig, was sie trug und in welcher Farbe? Und rote Haare hatte sie doch schon immer gehabt. Er kam sich ziemlich albern und kindisch vor. Dabei war er schon lange kein Kind mehr. Die Wettkämpfe zwischen ihm und seinen gleichaltrigen Freunden fanden zwar noch statt, aber sie waren ernster geworden und heftiger. Er ging fischen und jagen, wenn Grima was für den Kochtopf brauchte, die meiste Zeit jedoch verbrachte er mit Skadi auf der Werft, denn für Ymir stand fest, dass er ein Schiffbauer wie sein Vater werden wollte.
Das Schlimme jedoch war, dass er sich auf nichts mehr richtig konzentrieren konnte, seit er dieses blaue Band in ihren roten Haaren bemerkt hatte. Er vermisste auch ihre Geschichten, obwohl er sie alle kannte, und sah sie nicht einmal mehr regelmäßig so wie früher. Ymir hatte das Gefühl, dass sie sich immer weiter von ihm entfernte, immer unerreichbarer wurde. Bedrückt und unruhig zugleich lebte er von einem Tag zum nächsten. Gar nichts konnte ihn herausreißen aus seinem Zustand, nichts ging ihm mehr leicht von der Hand. Skadi musste ihn oft unwirsch aus seinen Träumereien wecken: „Glaub ja nicht, dass ich mir deine Faulheit und Vergesslichkeit noch lange mit ansehe, nur weil du mein Sohn bist.. Ich werde mir einen anderen Lehrjungen suchen,“ schimpfte er verärgert. Grima indes ahnte, was in Ymir vorging und hoffte, dass es schnell vorübergehen würde, denn, so vermutete sie, Gunnar würde für Embla sicher einen Häuptlingssohn aus einem anderen Tal aussuchen und sie nicht einem Handwerker zur Frau geben.
Ymir verschränkte die Arme vor seiner Brust, es war kühl geworden.
„Das war eine schlimme Zeit,“ dachte er, „und sie dauerte bis zu dem Tag, der mein Leben mit einem Schlage veränderte.“
An diesem alles entscheidenden Tag war Ymir frühmorgens tief in den Wald hineingegangen, um Bäume zu markieren, die er mit Skadi später fällen wollte. Während er sorgfältig Ausschau hielt nach Stämmen in der passenden Stärke und mit geradem Wuchs, hörte er plötzlich ein leises Schluchzen. Vorsichtig bog er die hochgeschossenen Farnkräuter auseinander – und wer hockte da zusammengekauert mit Tränen in den Augen? Ymir war zu verdutzt, um auch nur ein Wort herauszukriegen. Embla wischte sich über die Augen und sprang erfreut hoch, wobei sie so unglücklich auftrat, dass sie mit einem Fuß umknickte, strauchelte und – hätte sie sich nicht geistesgegenwärtig an Ymir geklammert – unweigerlich in’s Gestrüpp gefallen wäre. Ymir war von den Ereignissen so überrumpelt, dass ihm die naheliegendste Frage, wieso gerade sie sich verlaufen hatte, kannte sie doch den Wald so gut wie kaum ein anderer, gar nicht in den Sinn kam. Dieses zitternde, hilflose, über alle Maßen dankbare, ihn vertrauensvoll umklammernde Geschöpf brauchte seinen Schutz. Welch ein glücklicher Zufall, dass er zur rechten Zeit am rechten Ort war zu ihrer Rettung.
„Ha, von wegen Zufall, von wegen hilflos,“ dachte er und musste trotz allem grinsen, „war alles von ihr genau geplant.“ Embla hatte schon immer genau gewusst, was sie wollte – und es auch immer bekommen. „Das ist das Problem,“ Ymir kniff die Lippen zusammen, „zum ersten Mal in ihrem Leben läuft es nicht so, wie sie es will. Darum ist sie so unzufrieden, so aufbrausend, so giftig.“
Der Heimweg von Ymir und Embla durch den Wald von Dragensfjell an diesem denkwürdigen Tag zog sich in die Länge, denn obgleich Ymir sie fest um die Taille gefasst hatte um sie zu stützen, kamen sie nur langsam vorwärts. Als sie beide schließlich gegen Abend den Eingang zur Schlucht erreicht hatten, waren sie sich einig: sie würden heiraten. Ymir kam sich wie in einem Traum vor, zweifelte aber nicht daran, dass dieser wundervolle Traum in Erfüllung gehen würde – Embla hatte entschieden, das genügte. Als sie auseinandergingen, hüpfte sie vergnügt heim.
Gunnar machte keinerlei Anstrengungen, seiner Tochter den selbsterwählten Bräutigam auszureden. Nicht unbedingt aus Vaterliebe, Gunnar hatte ganz andere Gründe: Kein ehrgeiziger Schwiegersohn, der ihm zum Konkurrenten werden konnte, die nächste Generation hervorragender Schiffbauer fest an seinen Hof gebunden – mit der Aussicht auf die übernächste. Gunnar hatte schon immer weit in die Zukunft geplant und seine eigene war eng verbunden mit seinen seit Jahren im Geheimen, aber konsequent verfolgten Zielen. So forderte er als einzige Bedingung, dass Ymir vor der Hochzeit auf Reisen gehen solle. Auch dabei ging es nicht darum, dass Ymir was von der Welt sehen sollte, nein, Gunnar fehlte einfach noch ein kräftiger Bursche in einem seiner Boote für die bevorstehende Fahrt ins Sachsenland, wo eine größere Gruppe von seinen Leuten eine Siedlung gegründet hatte, von der aus sie Beutezüge ins Landesinnere unternahm. Von Zeit zu Zeit holte sich Gunnar seinen Anteil und kontrollierte gleichzeitig, ob die Gruppe weiterhin loyal ihm gegenüber war. Das erreichte er dadurch, dass immer einige seiner Männer aus dem Tal für ein oder zwei Jahre im Sachsenland blieben, „um die Siedler zu unterstützen“ wie Gunnar es nannte.
Ymir schaute auf das breite, farbige Band am Horizont. Um die schmale Kuppe der untergehenden Sonne glühten orangerote Streifen, durchzogen von langsam dahingleitendem Gewölk, übergehend in ein dunkles Rot, dann in ein tiefes, ruhiges Violett, an den Rändern sich auflösend im Dunkelblau der Nacht. Morgen würde es wieder einen strahlend schönen Frühlingstag geben.
„So schön wie der Tag der Abreise damals,“ erinnerte er sich ...
als er aufrecht in seinem Boot stand, den ungewohnten schweren Helm auf dem Kopf, die Streitaxt am Gürtel, den Wurfspeer in der rechten und den Schild in der linken Hand. Reglos, den Blick abwechselnd auf Embla, auf seine Eltern und auf Gunnar gerichtet. Während sie mit prall geblähtem Segel aus dem Fjord hinaus aufs offene Meer glitten, stürmten sehr gemischte Gefühle auf Ymir ein: Freudige Erwartung, Lust auf Abenteuer, Tatendrang, aber auch die bange Frage, ob Embla ihm wohl treu bliebe, und der nagende Zweifel, ob er sich bewähren oder überhaupt zurückkehren würde, denn Seefahrten waren gefährlich. Stürme und hoher Wellengang bedrohten sie ebenso wie Seeräuber, die kein Erbarmen mit den Besatzungen eroberter Schiffe kannten.
Die kleine Flotte aus drei Schiffen mit je 15 Mann an Bord segelte in südwestlicher Richtung an der Küste entlang, änderte den Kurs am Stirnbogen des Landes scharf nach Süden und fuhr dann in gerader Linie, außer Sichtweite der gefährlichen dänischen Küste und an den vorgelagerten Inseln vorbei, in eine der Flussmündungen des Sachsenlandes.
Um die Mittagszeit des sechsten Tages nach ihrer Abfahrt erreichten sie einen Nebenfluss und Erik, der das Kommando über die Flotte führte, ließ die Flagge von Dragensfjell aufziehen und gab das Zeichen zum Abbiegen. Die Einfahrt war eng und dichtes Buschwerk zu beiden Seiten des Ufers versperrte jede Sicht auf das Land dahinter. Erik sah, wie Ymir die Stirn runzelte und sagte deshalb zu ihm: „Diesen Nebenfluss hat Gunnars Vater vor Jahren entdeckt und auch den Stützpunkt gegründet. Wart’s nur ab!“
Eine ganze Weile fuhren sie weiter, bis der Fluss in einen See mündete, umgeben von dichtem Strauchwerk und Binsen. Hinter einer Landzunge, den Blicken zunächst verborgen, glitten sie in eine Bucht und auf einen Holzsteg zu, an dessen Pfählen zwei Drachenboote befestigt waren. Zwei weitere lagen auf dem kiesigen Uferstreifen.
Ein langgezogenes Signal ertönte und kurz darauf erschien ein Mann, der ihnen heftig gestikulierend ihre Anlegestellen zuwies. Kaum hatten sie den Landesteg hinter sich gelassen, lichtete sich das Dickicht und gab den Blick frei auf eine weite, flache Landschaft und die durch einen Palisadenzaun und davorliegendem Graben geschützte Siedlung.
Als sie am Abend an der Feuerstelle des Gemeinschaftshauses saßen und alle Grüße aus der Heimat überbracht und alle Nachrichten ausgetauscht waren, sagte Björn, der Dorfvorsteher: „Übermorgen werden wir aufbrechen mit zwei von unseren Schiffen und zwei von euren. Mit viel Glück finden wir ein Gehöft, das noch nicht aufgegeben wurde. Diejenigen, die im Herbst zurück nach Norwegen fahren, müssen Gunnar die Nachricht bringen, dass das Land hier weit und breit leer und verlassen ist. Er wird nicht gerade erfreut sein, aber hier ist nichts mehr zu rauben. Sagt ihm, dass wir die Siedlung halten wollen, aber als Viehzüchter und Ackerbauern.“
Björn machte eine kleine Pause, nahm einen kräftigen Schluck Bier und fuhr dann fort: „Vor vier Tagen hatten wir einen gewaltigen Sturm, einige Häuser und zwei Boote sind stark beschädigt worden. Ich