Ymirs Rolle. Gisela Schaefer
Kittel brauche ich sofort, die Löffel bekommst du später. Ich muss erst für deinen Mann ein Schiff bauen, danach mache ich mich auf die Suche nach einer Wurzel.“
„Was soll das für ein Geschäft sein?“ lachte sie und gab Ymir das Kleidungsstück und einen geflochtenen Strick, um es in der Mitte zusammenzuhalten.
Zufrieden lief Ymir zurück zu Widukind, nahm ihn auf den Arm und setzte ihn kurzerhand an einer seichten Stelle des Sees ins Wasser, den neuen Kittel legte er ins trockene Gras. Jeden Tag versorgte er seinen Fuß, indem er einen frischen Kräuterbrei auftrug, wie er es von Grima gelernt hatte. Geduldig zeigte er ihm, wie man Holznägel schnitzt und fütterte ihn so gut, dass Widukind schon bald nicht mehr ganz so dürr und armselig aussah. Nach vier Wochen nahm er ihm die Schienen ab und der Junge machte seine ersten unsicheren Gehversuche.
„Bald läufst du wieder wie ein Hase. Du kannst von Glück sagen, dass du nicht für den Rest deines Lebens humpeln musst,“ sagte Ymir und benutzte Hände und Füße, um sich einigermaßen verständlich zu machen. Widukind schnitzte nicht nur hervorragende Nägel, er lernte auch in kürzester Zeit viele Worte von Ymirs Sprache, so dass sie sich von Tag zu Tag besser verständigen konnten.
Die Reparaturarbeiten im Dorf und am Palisadenzaun waren längst beendet und auch Björns neues Schiff fast fertig. Während all der Wochen war Ymir regelmäßig auf die Jagd gegangen, um für sich und den Jungen Fleisch zu beschaffen, wobei er ständig nach Walnussbäumen Ausschau hielt. Aber vergeblich – weder einen gesunden, noch einen kranken oder abgestorbenen konnte er entdecken. Widukinds Wortschatz erweiterte sich indes schnell, so dass Ymir ihm von diesem innigsten Wunsch erzählen konnte, und auch von dem Hochzeitsgeschenk, das er für Embla daraus schnitzen wollte. Widukind wiederum beschrieb den einst so stolzen, großen Gutshof seines Vaters mit den vielen Menschen, die dort lebten und arbeiteten. Je länger sie beieinander waren, desto freundschaftlicher und vertrauensvoller wurde ihr Verhältnis, ein bißchen wie zwei Brüder, fand Ymir und dachte mit Schrecken daran, Widukind zurücklassen zu müssen, wenn er im Herbst wieder nach Norwegen fahren würde. Wie konnte er es verhindern, dass der Junge zum Sklaven würde? Björn wartete nur darauf, den inzwischen wieder gesunden, kräftigen und geschickten Jungen für sich arbeiten zu lassen.
Während Ymir sich darüber den Kopf zerbrach, beschloss Björn, mit einigen seiner Männer einen längeren Jagdausflug zu unternehmen zu einem entfernt liegenden Wald, wo es Wildschweine und Hirsche in Hülle und Fülle gab, damit allmählich ein Wintervorrat an Wild eingelagert werden konnte. Je nach Jagdglück rechnete man mit etwa zwei Wochen bis zur Rückkehr. Das brachte Ymir auf die rettende Idee. Zwei Tage lang erwog er sehr sorgfältig sein Vorhaben, dann war der Plan fertig und Ymir entschlossen, ihn durchzuführen - die Abwesenheit von Björn kam wie gerufen, es war unwahrscheinlich, dass eine weitere günstige Gelegenheit auftauchen würde.
„Inga,“ sagte er zu Björns Frau, „was hältst du davon, wenn ich mich ernsthaft auf die Suche begebe nach einer Wurzel, ich meine, in einem viel weiteren Umkreis als bisher. Du weißt selber, dass hier nichts zu finden ist. Außerdem stehe ich in deiner Schuld und möchte gern mein Wort halten. Aber dazu bräuchte ich ein Pferd mit Wagen.“
Inga sah ihn nachdenklich an, ein Pferdefuhrwerk war ein wertvoller Besitz.
„Ach lass nur, wenn du es nicht entscheiden kannst, warte ich eben, bis Björn wieder da ist. Es hätte nur gerade ganz gut gepasst … das Schiff muß ein paar Tage trocknen, ehe ich weiterarbeiten kann … war nur so eine Idee von mir... „ Ymir tat so, als wolle er gleich wieder gehen. Wie vermutet, hatte er jedoch genau ins Schwarze getroffen.
Inga stemmte empört die Hände in die Hüften: „Ich kann alleine entscheiden, und ich will meine zwei Löffel, das heißt, für das Ausleihen eines Pferdes verlange ich außerdem eine Schale.“
„In Ordnung,“ seufzte Ymir, es würde nicht viel übrig bleiben für Emblas Geschenk.
„Wie lange wirst du wegbleiben?“
„Ich weiß noch nicht, vielleicht eine Woche, vielleicht zwei … ich nehme Widukind mit,“ fügte er leichthin hinzu.
Schon am nächsten Morgen zogen sie los, Ymir hatte die Zügel in der Hand und Widukind saß neben ihm. Natürlich wusste er, was Ymir suchte, aber was sein Freund sonst noch im Sinn hatte, das ahnte er ganz und gar nicht.
Nachdem sie acht Tage umhergezogen waren über Wiesen und durch Wälder, was mit dem Pferdewagen nicht immer einfach war, gab Ymir enttäuscht auf. Am Abend, als sie am Feuer saßen und auf den letzten Resten einer Hasenkeule kauten, beschloss er, zurück zum Dorf zu ziehen, und das bedeutete, dass die Zeit gekommen war, seinen Plan, das zweite Ziel dieser Reise, auszuführen. Mit Vorbedacht hatte er eine nordöstliche Route gewählt.
„Wenn wir morgen einen scharfen Bogen nach Westen machen, müssten wir doch an den Fluss kommen oder nicht?“ fragte er und leckte sich die Finger. Noch ehe Widukind antworten konnte, fuhr er fort: „Nach dem, was du erzählt hast, lag der Gutshof deines Vaters nicht allzu weit vom Fluss entfernt. Ich schätze, man braucht zwei bis drei Tagesmärsche bis dorthin. Meinst du, das kannst du alleine schaffen?“
Widukind schaute ihn verständnislos an und Ymir fuhr fort:
„Ich kann dich nicht begleiten, das wäre zu gefährlich für mich. Du nimmst deinen Trinkwasserbeutel mit und morgen, auf dem Weg zum Fluss, werde ich versuchen, noch einen Hasen zu erwischen. Den braten wir und wickeln ihn in Blätter, dann hast du genug für deinen Weg. Außerdem kannst du im Wald Beeren sammeln und, wenn nötig, Fische fangen. Wie man Feuer macht, weißt du und ich glaube nicht, dass hier Tiere sind, die dir gefährlich werden könnten. Du brauchst also keine allzu große Angst zu haben.“
Widukind hatte inzwischen begriffen, was Ymir mit ihm vorhatte und dicke Tränen rollten ihm über die Wangen. Schluchzend würgte er hervor:
„Ich habe keine Angst.“
Ymir starrte ins Feuer: er hatte keine Wurzel gefunden, Widukind, den er ins Herz geschlossen hatte, war nur noch wenige Stunden bei ihm, Björn würde ihm eine Menge Vorwürfe machen - er drehte den Kopf etwas zur Seite, hatte es nicht gerade direkt hinter ihm geknackt?
Mehrere Hände packten ihn, warfen ihn zu Boden, ein Knie bohrte sich in seinen Rücken, seine Arme wurden nach hinten gerissen und seine Handgelenke zusammengebunden. Alles das geschah in Sekundenschnelle. Gleichzeitig brach ein Freudengeschrei los und Ymir sah, wie Widukind von einem Mann umarmt und herumgewirbelt wurde, während die anderen Männer ihm auf die Schulter klopften oder ihn freundschaftlich in die Seite stupsten. Dann setzten sie sich um das Feuer. Da sie alle auf einmal zu sprechen schienen, war es schwierig für Ymir, etwas zu verstehen, aber soviel bekam er mit, dass es Widukinds Vater mit einigen Dorfbewohnern war, von denen er überwältigt worden war. Offenbar auf der Jagd, hatten sie den Feuerschein gesehen und sich herangeschlichen.
Nach einer Weile verstummte das Stimmengewirr, nur Widukinds Stimme war noch zu vernehmen. Eindringlich und bittend sprach er auf die Männer ein und Ymir war klar, dass es um ihn, um sein Leben oder seinen Tod ging. Er sah, wie Widukind auf seinen Knöchel zeigte und allmählich wich der Groll aus den Gesichtern der Männer. Auch Widukinds Vater schien seinen Widerstand aufzugeben, obwohl Ymir sich vorstellen konnte, wie groß seine Rachegelüste wegen des ihm angetanen Unrechts waren. Er nickte und gleich darauf kam Widukind zu Ymir und setzte sich neben ihn:
„Hab keine Angst mehr,“ sagte er zu ihm. „Ich habe ihnen alles erzählt, auch, dass du mich morgen freilassen wolltest. Aber du bist der einzige, den sie verschonen wollen, sollte ihnen je ein anderer von euch in die Hände geraten, werden sie keine Gnade kennen, sag das den Männern in deinem Dorf. Sie werden dir auch dein Pferd, deinen Wagen und deine Axt lassen. Mit diesem Messer hier darf ich dir die Fesseln lösen, denn wir werden jetzt sofort aufbrechen, folge uns auf keinen Fall. Ich danke dir, auch im Namen meines