Ymirs Rolle. Gisela Schaefer

Ymirs Rolle - Gisela Schaefer


Скачать книгу
immer ausführlicher erzählte er von seinem Kummer, von Ymir und Emblas Problemen, von Grimas Tränen.

      „Oh Odin,“ hob er bittend die Hände zum Himmel, „hilf uns allen, schick den Schamanen ins Tal und gib ihm die Kraft, uns zu helfen.“

      Skadi verbrachte einen Tag und eine Nacht vor der Höhle, aber der Schamane tauchte nicht auf. Er beschloss, ihm eine Botschaft zu hinterlassen, denn es war bekannt, dass der Schamane weite Reisen unternahm - mal tauchte er unverhofft hoch im Norden auf, dann wieder tief im Süden – es machte keinen Sinn, noch länger vor seiner Behausung auszuharren. Skadi schälte ein Stück Rinde von einem Baum und ritzte auf die Innenseite mit seinem Messer die Drachenberge. Dann die Bitte: „Komm bald, wir brauchen deine Hilfe“. Zum Schluss schnitt er den Umriss eines Schiffes hinein und seinen Namen. Er warf die Rinde vor den Eingang der Höhle und hoffte, dass der Schamane die Nachricht finden und verstehen würde. Dann machte er sich auf den Heimweg.

      Wochen vergingen, ohne dass irgendetwas geschah. Grima sah darin eine endgültige Entscheidung der Götter und wagte kaum noch, Ymir in die Augen zu sehen. Der Sommer ging zu Ende und die Ernte wurde eingefahren, Scheunen und Vorratskammern füllten sich. Wie in jedem Jahr, ließ Gunnar Zweige und Äste aufschichten zu einem gewaltigen Erntedankfeuer. Das Fest begann am Mittag und als die Dämmerung alles in ein weiches, blaues Licht tauchte, loderten die Flammen hoch auf. Im Tal breitete sich ein Duft von gebratenen Äpfeln aus, von knusprigen, fetttriefenden Speckscheiben, von warmen Fladenbroten und frisch gebrautem Gerstenbier. Gunnar, inmitten seiner Familie, seiner Krieger, Handwerker und Bauern, ließ seinen Becher immer wieder auffüllen, hob ihn hoch in die Luft – und dann konnte er nicht anders, er mußte Ymir verhöhnen, genauso, wie er es vor Jahren mit Skadi, Ymirs Vater gemacht hatte.

      „Seht euch diesen Schwiegersohn an … ja, seht ihn nur alle an,“ grölte er mit gerötetem Gesicht und vom Bier glasigen Augen. „Feiert ohne Scham das Erntedankfest. Wo ist denn deine Ernte? Auch in diesem Jahr hast du keine, wie in den Jahren zuvor. Meine Tochter sollte längst eine ganze Schar von Kindern ...“

      Noch ehe er seinen Satz beenden konnte, sprang wie aus dem Nichts eine Gestalt mitten unter die Feiernden und pflanzte sich breitbeinig und mit weit ausladenden Armen vor Gunnar auf. Auf ihrem Kopf saß eine Lederhaube, die sich im Nacken fortsetzte, über den Rücken lief und schmaler werdend in einem Schweif endete. Von der Stirn an bis zum Boden starrten spitz zulaufende Panzerschuppen, und dick aufgetragene schwarze und grüne Farbe entstellte ihr Gesicht zu einer drachenähnlichen Grimasse. Über einem grünen Leinenkittel hingen Ketten aus Reißzähnen, Hauern und Krallen wilder Tiere. An den Handgelenken wippten Armbänder mit langen Vogelfedern und um die aus den Lederhosen herausschauenden Fußgelenke klapperten weißgebleichte Knochen hell und hohl gegeneinander.

      Der Schreck über das plötzliche Auftauchen des Schamanen saß tief – es war totenstill geworden. Wie versteinert erwarteten sie seinen Spruch. Wen würde er verfluchen, wem brachte er Unglück, oder eine frohe Botschaft? Sollte gar Gunnar, der Häuptling, bestraft werden für sein loses Mundwerk, für seine Undankbarkeit gegen einen seiner besten Männer? Der Schamane schwang zwei Stäbe drohend gegen Gunnar.

      „Schweige für immer, denn das Kind wird geboren werden,“ stieß er endlich heiser hervor, und sein einziges Auge blitzte und funkelte zornig, „und du, Gunnar von Dragensfjell, wirst es dereinst zu deinem Nachfolger erklären.“

      „Niemals,“ schrie Gunnar, „niemals das Kind eines Schiffbauers, der in meinen Diensten steht!“

      „Nicht du bestimmst das, sondern die Götter. Glaubst du nicht mehr an die Götter, Gunnar?“

      „Ich glaube an meine Kraft, sonst nichts,“ schleuderte ihm Gunnar trotzig ins Gesicht.

      „Für diesen Hochmut wirst du bestraft, denn du selber wirst nie dein großes Ziel erreichen.“

      Gunnar erbleichte bei diesem Fluch des Schamanen und der Becher mit Bier, den er erhoben hatte, um Ymir vor allen zu demütigen, entglitt seiner zitternden Hand. Der Schamane wandte sich ab von ihm und stand nun vor Ymir und Embla. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, warf er ihnen in einer blitzschnellen Bewegung einen seiner Stäbe zu – und war im nächsten Moment in der Dunkelheit verschwunden. Embla und Ymir hatten gleichzeitig nach dem Stab gegriffen. Sein Holz war so sanft und glatt - atemlos tasteten sie weiter über seine Oberfläche und im flackernden Feuerschein lasen sie Ymirs eingebrannten Spruch. Embla drückte ihr Hochzeitsgeschenk fest an sich: „Unser Sohn wird geboren, und eines Tages wird Gunnar ihm die Nachfolge anbieten,“ flüsterte sie.

      „Nicht dem Sohn eines Schiffbauers, du hast es gehört,“ antwortete Ymir.

      „Er wird,“ sagte sie und der Ton ihrer Stimme duldete weder Widerspruch noch Zweifel.

      Gunnar war die Lust am Feiern vergangen.

      „Der fette Speck liegt mir schwer im Magen,“ brummte er finster und verließ das Fest. Er warf sich auf sein Lager und starrte lange in die Flamme der Öllampe. Er war nun 44 Jahre alt, und die meiste Zeit seines Lebens hatte er gekämpft und gearbeitet, er fühlte die ersten Spuren davon in seinen Knochen. Wie oft hatte er sich und seine Leute, das Tal mit den Drachenbergen und den Wäldern, seine Handels- und Kriegsschiffe gegen Feinde verteidigen müssen. Wie hart hatte er um Macht und Reichtum ringen müssen. An seine Mutter konnte er sich gar nicht erinnern, sie war viel zu früh gestorben. Sein Vater kehrte von einem Raubzug nicht mehr heim, als Gunnar 14 Jahre alt war. Seit dieser Zeit war er auf sich selber gestellt gewesen. Und all diese harten Jahre sollten umsonst gewesen sein, sein Ziel, die Krone Norwegens, nicht erreicht werden? Und das alles wegen eines kleinen, wenn auch derben Spaßes auf Kosten seines Schwiegersohnes, den er zwar als Schiffbaumeister hoch schätzte, der aber offensichtlich nicht zum Ehemann taugte? In Gunnar wuchs die Gewissheit, dass er schnell handeln musste, sonst war vielleicht alles verloren. Seine Gedanken rasten ihm durch den Kopf. Er musste für das nächste Frühjahr eine Versammlung der Fürsten einberufen und sie endlich dazu bringen, ihm die Krone aufzusetzen. Bis jetzt hatten sie sich stets geweigert, wenn er die Sprache darauf gebracht hatte. Er würde es diesmal mit List erzwingen. Er würde Boten an ihre Höfe senden, gleich morgen, und sie für das nächste Frühjahr an einen neutralen Ort bestellen. Und was das Kind von Embla und Ymir anging – was kümmerte es ihn, es war ja noch nicht einmal geboren. Gunnar wollte die Krone für sich, nie war er so entschlossen gewesen wie in diesem Augenblick. Und eines Tages würde er sie an seinen Ältesten, an Thormod, weitergeben, an niemanden sonst.

      Thormod war das Ebenbild seines Vaters, äußerlich und innerlich: wildverwegen, mutig bis zur Tollkühnheit und mit einem scharfen Verstand versehen. Nichts hatte ihn bisher für längere Zeit an einem Ort halten können, ständig wurde er getrieben von Unrast. Gunnar liebte ihn vor allen anderen und nahm sich vor, Thormod in Zukunft enger an seinen Hof zu binden, um ihn auf seine zukünftige Rolle vorzubereiten. Dem Zufall würde er nichts überlassen – und auch nicht dem Schamanen. Er, Gunnar, würde planen und lenken – nicht dieser albern bemalte Möchtegern-Drache.

      Gunnar fühlte die Anspannung allmählich weichen, er hatte die Fäden wieder in der Hand. Er schloss die Augen und versank in einen Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Jäh schreckte er auf, mit dem deutlichen Unbehagen, beobachtet zu werden. Die Öllampe flackerte unruhig, als hätte ein Luftzug sie gestreift. Gunnar sah niemanden, nur hinter seinen Augenlidern haftete noch für einen Moment das Abbild eines schwarz-grünen Musters.

      „Der Schamane,“ fuhr es ihm durch den Kopf, „“er verfolgt mich bis in meine Träume.“

      Sein Herz pochte wild und er dachte wieder an Thormod. Was, wenn dem besten seiner Söhne etwas zustoßen würde? Zornig versuchte Gunnar, diese verzagten Gedanken wegzuscheuchen. Aber sie quälten ihn weiter. Und endlich musste er sich das eingestehen, wovor er so große Angst hatte: Es war nur Thormod, auf den er baute – und bauen konnte!

      Ingvar, sein Zweitältester, war faul und feige.

      „Er wird wie eine Kuh im Stall sterben, niemals wie ein Krieger,“ dachte Gunnar, „nicht mal ein Handwerk kann er ausüben,“ und es krampfte ihm die Brust zusammen, als er sich nun zum ersten Mal diese bittere Wahrheit eingestand.

      Olav


Скачать книгу