Ymirs Rolle. Gisela Schaefer

Ymirs Rolle - Gisela Schaefer


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fast gestürzt. Einen kurzen Moment flaute der Wind ab und er fing sich wieder. Die Luft um ihn herum war gelb und braun und es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass er von Sand umgeben war. Es war kaum möglich zu atmen und er zog den Stoff seiner Decke über Nase und Mund.

       Die nächste Windböe kam und er musste die Augen schließen und sich abwenden. Hin und her wurde er geworfen, stolperte hilflos mit weit vornüber gebeugtem Oberkörper durchs Dorf, über die Felder in Richtung Fluss. Der Sand wurde mit solcher Wucht gegen ihn geschleudert, dass er wie die rauhe Zunge eines Rindes über jedes Stückchen freiliegende Haut schürfte und sie wund rieb. Ymir versuchte, sich so gut es ging davor zu schützen, aber schon nach wenigen Sekunden hatte er Sand in den Augen, im Mund, in den Ohren, einfach überall, jeder Atemzug war ein Ringen gegen das Ersticken. Aber er kämpfte sich Schritt für Schritt weiter vor, bis er den Fluss erreichte, der etwas tiefer lag als das umliegende Land und das Dorf. Die Schiffe tanzten wie Korken auf dem Wasser und Ymir sah, dass die Stricke, mit denen sie befestigt waren, nicht mehr lange halten würden, weil sie an mehreren Stellen fast durchgescheuert waren.

      „Ich muss sie in die Binsen ziehen, damit sie sich im Schlick festsetzen, sonst zerschlagen sie sich gegenseitig oder werden weggetrieben,“ dachte er und holte aus seiner Hütte, die nun als Lagerraum diente, einige neue Seile, nutzte die kurzen Pausen zwischen den Böen, stieg ins aufgewühlte Wasser, befestigte sie nacheinander an den Booten, suchte sich passende Bäume am Uferrand aus, wickelte die Stricke darum und zog mit aller Kraft die Schiffe in das Schilf, bis sie feststeckten. Als seine Handflächen aufgerissen waren und bluteten, schnitt er mit dem Messer Streifen von seiner Decke ab und wickelte sie darum.

      „Odin, mach, dass die Bäume halten, mach, dass die Stricke halten, mach, dass der Sturm aufhört,“ betete er mehr als einmal, während er das letzte Seil knirschend um einen Stamm zog. Aber der Sturm tobte immer grausamer.

       Ymir, der Bärenstarke, ließ sich zu Tode erschöpft an einem der Bäume auf die Erde sinken, er hatte alle Schiffe gesichert, aber nun verließen ihn die Kräfte, die Knie gaben nach unter ihm und Tränen liefen aus seinen entzündeten Augen. Den Rückweg ins Dorf würde er auf keinen Fall schaffen, mit einer letzten Willensanstrengung kroch und schob er sich zum nächstgelegenen Schiff, rollte sich über die Bordwand und unter die Ruderbänke, zog das Segeltuch über sich und verlor das Bewußtsein.

       Björn war auf einen heftigen Sturm gefasst gewesen, aber eine solche Katastrophe, wie sie nun über sie hereinbrach, hatte er nicht erwartet und auch noch nie erlebt. Der Orkan zerstörte nicht nur alle Häuser und den Palisadenzaun einschließlich seinem Wachturm, die Unmassen an feinem, gelben Sand lagen nun in einer dicken Schicht über dem Land und über dem Dorf. In jede Ritze war er gedrungen, hatte ihr Saatgut, ihr Mehl, ihre ganze Ernte vernichtet, hatte die Ställe der Tiere zerschmettert, so dass viele von ihnen darunter begraben lagen. Aber das Schlimmste war, dass auch einige der Dorfbewohner, Männer, Frauen und Kinder, unter den Trümmern ihrer Häuser gefunden wurden, erstickt oder erdrückt, denn der Wind hatte mit unbarmherziger Gewalt Sand gegen sie gepeitscht und Lehmbrocken und Balken gegen sie geschleudert. In ihrer Not waren sie unter Felle und Decken gekrochen, die sie nicht schützen konnten.

       So plötzlich, wie die Katastrophe über sie hereingebrochen war, so plötzlich endete sie. Ein unbeschreibliches Chaos herrschte und durch die gelbe Staubschicht auf den Gesichtern der Menschen zogen sich dunkle Rinnsale, als ihnen Tränen des Entsetzens über die Wangen liefen. Man fand Ymir, mehr tot als Lebendig, kaum bei Bewußtsein, und trug ihn ins Dorf. Sie schleppten mühsam Wasser vom Fluss herbei, gaben den Verletzten zu trinken und verbanden ihre Wunden - viel mehr konnten sie nicht tun in diesen ersten Stunden. Sie wussten, dass ihr Dorf verloren war und dass sie schnell zu einer Entscheidung kommen mussten über ihre Zukunft. Als ihnen klar wurde, dass die Boote das einzige waren, was ihnen erhalten geblieben war, beschlossen die meisten von ihnen, zurück nach Norwegen zu ziehen. Es gab keine Alternative: Der Winter stand bevor, das Land war mit Sand bedeckt, das Dorf zerstört, alle Lebensmittel verdorben. Eine kleine Gruppe junger Männer und Frauen entschied sich, mit den verbliebenen Pferden und Kühen im Land zu bleiben und solange umherzuziehen, bis sie eine Stelle finden würden, wohin der Sturm keinen Sand getragen hatte.

      „Allein Ymir haben wir es zu verdanken, dass wir überhaupt von hier fort können,“ sagte Björn. „Jeder darf im Übrigen nur das mitnehmen, was er auf dem Leib hat, nur so passen wir alle in die Schiffe. Machen wir uns an die Arbeit!“

       Drei Tage lang dauerten die Vorbereitungen für die Abreise, dann war es soweit. Ernst und still standen die Dorfbewohner in den Booten, als sie langsam aus dem Hafen hinausglitten, dann verstellten ihnen Büsche und Bäume den Blick auf ihr verlorenes Land.

      „Ja, so hat sich das damals abgespielt,“ dachte Ymir wehmütig, „als ich Emblas Hochzeitsgeschenk unter meinem Hemd versteckt mit an Bord genommen hatte, obwohl Björn alles verboten hatte, was nicht unbedingt lebensnotwendig war.“

      „Was sitzt du da herum und starrst ins Dunkle? Das Essen steht auf dem Tisch, soll es kalt werden?“

      Ymir, der tief versunken gewesen war in seine Erinnerungen, zuckte bei diesen unfreundlichen Worten zusammen. Heißer Zorn stieg in ihm hoch – er stand auf, ging entschlossen ins Haus, vorbei an dem Topf mit dem dampfenden Eintopf aus Lauch, zerstampftem Roggen und Kaninchenfleisch, sah sich suchend um bis er es gefunden hatte, nahm es an sich und verließ das Haus.

      „Was soll das bedeuten?“ schrie sie ihm nach. „Gib mir sofort mein Holz zurück, du hast es mir geschenkt!“

      Aber Ymir kümmerte sich nicht um ihr Gezeter. Er schwang sich auf sein Pferd, ritt zur Schlucht und durch sie hindurch. Ein halber Mond erschien und gab ein wenig Licht. Als er glaubte, tief genug im Wald zu sein, nahm er das Holz und schleuderte es weit von sich, machte auf dem Absatz kehrt, um nicht von Reue gepackt zu werden, und lenkte sein Pferd zurück ins Tal. Er ging nicht nachhause in dieser Nacht, sondern blieb bei Skadi und Grima. Keiner von ihnen machte ein Auge zu – bis der Morgen dämmerte saßen sie beieinander.

      „Glaub mir Ymir,“ sagte Grima müde, „alles, was Embla fehlt, und darum immer zänkischer macht, ist ein Kind. Niemand versteht besser als wir,“ sie sah Skadi an, der zustimmend nickte, „was es heißt, jahrelang vergeblich zu warten.“

      „Ich weiß,“ entgegnete Ymir und ließ den Kopf tief hängen, „aber was soll ich tun? Sagt mir, was soll ich tun? Wenn Odin uns nicht hilft, wer dann?“

      Seine Stimme klang so verzweifelt, dass es Grima ins Herz schnitt.

      „Der Schamane!“ sagte Skadi in die entstandene Stille hinein. „Ich selber werde zu ihm gehen.“

      „Aber niemand weiß, wo er wohnt,“ warf Ymir ein.

      „Dann werde ich solange suchen, bis ich ihn gefunden habe,“ antwortete Skadi entschlossen.

      Ymir blickte in ihre bekümmerten Gesichter und entdeckte in ihren Augen einen leisen Hoffnungsschimmer.

      Als die ersten Vögel erwachten, machte sich Ymir auf den Weg zur Werft. Der frühe Morgen war die beste Zeit für eine gute Arbeit, und Arbeit war die beste Medizin um seine Sorgen zu vergessen.

      Skadi ritt, wie er es angekündigt hatte, in den Wald hinein. Drei Tage lang irrte er umher, ohne auch nur das geringste Anzeichen eines Menschen zu finden. Er hatte längst die Trampelpfade hinter sich gelassen und stolperte, sein Pferd am Zügel hinter sich herziehend, immer tiefer hinein in den unwegsamen, unberührten Teil des Waldes. Er verlor die Orientierung in dem Dickicht, es war ihm egal. Er würde nicht wieder zurückkehren, bis er den Schamanen gefunden hatte. Am Morgen des vierten Tages - fahle, schräg einfallende Sonnenstrahlen gaben gerade soviel Licht, dass er das Nächstliegende sehen konnte - stand er plötzlich, nur wenige Meter von seinem Nachtlager entfernt, vor der Höhle des Schamanen. Die war unschwer als solche zu erkennen, denn in einem Halbkreis davor waren an in die Erde gesteckten Pfählen Amulette, Schädelknochen, Federn und allerlei andere geheimnisvolle Zeichen und Dinge angebracht, ganz offensichtlich als Abschreckung gedacht.

      Skadi


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