Ymirs Rolle. Gisela Schaefer

Ymirs Rolle - Gisela Schaefer


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       Ymir kratzte sich das Kinn und meldete sich zögerlich, wusste er doch nicht, ob er sich freuen sollte oder nicht. Auf der einen Seite war er ganz froh, nicht am Raubzug teilnehmen zu müssen, er verabscheute die Greueltaten, die oft damit verbunden waren. Auf der anderen Seite erwarteten Embla und Gunnar ganz sicher wenigstens eine kleine Heldentat von ihm. Um Häuser und Schiffe zu reparieren hätte er diese lange Fahrt wirklich nicht unternehmen müssen, das konnte er auch zuhause.

      „Ich bin Schiffbauer,“ sagte er.

      „Das ist das beste, was uns passieren konnte,“ Björn war hocherfreut „dann übernimmst du die Verantwortung für alle Reparaturen, und fang beim Zaun an, den hat’s ordentlich erwischt. Wenn du mit allem fertig bist, kannst du uns ein zusätzliches Schiff bauen, wer weiß, wann wir wieder einen Schiffbauer unter uns haben.“

       Dann bestimmte er einige weitere Männer, die sich nur murrend und widerwillig seinem Befehl fügten, bei Frauen und Kindern daheim zu bleiben, während die anderen in den Kampf zogen.

       Am übernächsten Tag fuhren sie mit vier Schiffen stromaufwärts. Ymir sah sich etwas gründlicher im Dorf um: 38 Häuser standen zu beiden Seiten einer Straße, die mitten durch die Ansiedlung führte. Jedes Haus hatte seinen eigenen Gemüse- und Kräutergarten auf der Rückseite, und auch ein Stück Wiese für Hühner und Enten. Es gab ein Langhaus für die Männer, die sich nur zeitweise bei ihnen aufhielten oder noch keine Familie gegründet hatten, das Gemeinschaftshaus für Versammlungen, Ställe für Pferde, Schweine, Schafe und Ziegen, ein Backhaus aus Natursteinen erbaut, einen rund gemauerten Brunnen und außerhalb des Dorfes die Begräbnisstätte, die mit großen Steinbrocken markiert war, deren Anordnung den Umriss eines Schiffes erkennen ließ.

       Nachdem Ymir alle Schäden festgestellt hatte, ritt er mit zwei Helfern in den nahegelegenen Wald, wo sie das notwendige Holz schlugen, entfernten die Äste und ließen die Stämme von den Pferden ins Dorf und zum Fluss an Ymirs zukünftigen Schiffsbauplatz ziehen. Als sie an einem Steinbruch vorbeikamen, entdeckte Ymir an dessen Rand eine kräftig gewachsene Baumart, die er nie zuvor gesehen hatte.

      „Auf keinen Fall,“ warnten die Männer erschrocken, als sie sahen, dass er Anstalten machte, den Baum zu fällen, „Björn würde das nie erlauben, er trägt Früchte, die im Herbst reif werden. Lass dir von seiner Frau Inga welche vom letzten Jahr geben, falls du sie nicht kennst..“

      „Früchte vom letzten Jahr? Wie schafft sie es, sie so lange frisch zu halten?“ fragte Ymir erstaunt.

       Die Männer lachten lauthals: „Nicht nötig, mit ihnen irgendwas zu machen … aber wenn du sie essen willst, mußt du starke Zähne haben.“

       Natürlich war Ymir jetzt richtig neugierig geworden und ging gleich zu Inga. Sie holte eine Schüssel hervor, die angefüllt war mit kleinen, verschrumpelt aussehenden Kugeln.

      „Probier sie!“ forderte sie ihn auf.

       Als er sie unschlüssig in der Hand drehte, sagte sie: „Wenn dir deine Zähne lieb sind, versuch nicht , sie damit zu knacken. Leg sie auf den Tisch und hau mit der Faust drauf. Nur was drin steckt, kann man essen. Die Einheimischen nennen sie Walnüsse. Leider gibt es hier in der Umgebung nur diesen einen Baum am Steinbruch. Vor Jahren stand ein zweiter daneben, aber der ist irgendwann abgestorben. Sieh dir die Schüssel an,“ Inga kippte die Nüsse in einen Eimer, „und diese Löffel hier, das ist alles aus dem Wurzelholz des Walnussbaumes. Mein Vater Hakon war Schiffbauer und Schnitzer. Was sagst du dazu?“

       Es war das schönste an Wurzelholz, was Ymir je gesehen hatte. Diese schwungvollen Maserungen, diese wolkigen Muster und Linien, die feinen Grau- und Brauntöne. Er strich bewundernd über die weiche, glattgeschmirgelte Oberfläche.

      „Wenn du irgendwo einen abgestorbenen oder kranken Walnussbaum entdecken solltest, was ich nicht glaube, denn wir haben schon alle danach gesucht, dann grab die Wurzel aus. Du bekommst wertvolle Geschenke für alles, was du daraus schnitzt. Alle Frauen im Dorf möchten Schüsseln aus Walnussholz, sie beneiden mich um meine.“

       Ymir steckte die beiden mit einem feinen Häutchen umgebenen Hälften der Nuss in den Mund.

      „Hast du schonmal sowas köstliches gegessen?“ fragte Inga. „Dabei sind sie auch noch sehr nahrhaft, denn sie sind voller Fett. Und wie du siehst, kann man sie monatelang aufbewahren. Ich weiß nicht, warum der Walnussbaum so selten ist, vielleicht ist es ihm nicht warm genug in unserem Land. Jedenfalls haben wir mehrmals vergeblich versucht, Schößlinge anzupflanzen, sie sind alle eingegangen.“

       Vier Wochen waren vergangen, als Björn mit seiner Flotte wieder zurückkehrte. Einen einzigen Gutshof hatten sie gefunden und ihn abgebrannt bis auf die Grundmauern. Ein armseliges Dorf hatten sie links liegengelassen, mehr aus Hochmut denn aus Mitleid mit den entsetzten Bewohnern.

      „Die vom Gutshof haben uns frühzeitig kommen sehen und sind in die Wälder geflüchtet,“ Björn zuckte mit den Schultern, „es wäre sinnlos gewesen, sie zu verfolgen. Wir haben alles mitgenommen, was wir brauchen können.“

       Ymir starrte auf den Jungen, der gefesselt in einem der Boote lag. Etwa 12 Jahre alt mochte er sein, verdreckt, zerlumpt und spindeldürr. Björn folgte seinem Blick: „Eine von unseren Eroberungen,“ sagte er leichthin.

       Obwohl sein Gesicht vor Schmerz verzerrt war, gab der Junge keinen Laut von sich.

      „Ist auf der Flucht gestürzt und hat sich wohl den Fuß verstaucht. In ein paar Tagen wird er wieder arbeiten können, sonst hätten wir ihn nicht mitgeschleppt.“

      „Ich könnte einen Gehilfen brauchen zum Nägelschnitzen für dein neues Schiff,“ sagte Ymir schnell, „dabei braucht er seine Füße nicht.“

      „Meinetwegen,“ brummte Björn.

      „Ich habe mir unten am Fluss eine Hütte gebaut, gleich neben meinem Arbeitsplatz. Er kann dort mit mir wohnen.“

      „Meinetwegen,“ rief ihm Björn mit abgewandtem Gesicht zu, denn er war schon auf dem Weg nachhause.

       Ymir hob den Jungen auf die Schulter, trug ihn zu seinem neuen Holzhaus und legte ihn auf das Lager aus Stroh und Decken. Der Raum war groß genug für zwei, er würde sich ein anderes herrichten. Vorsichtig tastete er den Fuß ab und der Junge stöhnte.

      „Hab’ ich mir’s doch gedacht … dein Knöchel ist gebrochen, aber sag das besser niemandem. Ich muss den Knochen richten, sonst wirst du nie mehr richtig laufen können. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.“

       Der Junge verstand kein Wort, aber er ahnte, was Ymir ihm sagen wollte und nickte. Ymir steckte ihm ein Stück Leder in den Mund: „Beiss feste drauf, es wird weh tun!“

       Dem Jungen trat der Schweiß auf die Stirn und er schloss die Augen. Ymir packte den Fuß und es gab ein schrecklich knirschendes Geräusch, der Junge verlor das Bewußtsein. Als er wieder aufwachte, war sein Fuß geschient und mit Lappen fest umwickelt. Neben seinem Lager stand ein Krug mit Wasser, auf einem Stück Holz lagen Brot und Käse. Der Junge aß gierig, dann schlief er erschöpft ein.

       Als er am nächsten Morgen erwachte, setzte sich Ymir vor ihn, tippte sich mit dem Finger auf die Brust und sagte: „Ymir!“ Dann zeigte er auf den Jungen und fragte: „Wie heißt du?“

       Der Junge begriff und antwortete: „Widukind.“

      „Widukind,“ wiederholte Ymir, „das wäre schonmal geklärt.“ Dann rümpfte er die Nase und fügte hinzu: „Du brauchst dringend ein Bad, und auch was anderes zum Anziehen, diese Fetzen halten keinen Tag länger.“

       Er überlegte eine Weile, dann ging er zu Inga ins Dorf.

      „Wenn


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