Ymirs Rolle. Gisela Schaefer
Widukind lächelte schwach und Ymir meinte, Tränen in seinen Augen zu sehen. Es war ihm genauso schwer ums Herz.
„Leb wohl, mein kleiner Bruder,“ sagte Ymir.
Widukind nahm das Messer und begann, Ymirs Fesseln zu durchschneiden. Dabei beugte er sich tief zu ihm hinunter und kniete sich so dabei hin, dass er den Männern am Feuer den Rücken zukehrte.
„Geh nicht nach Westen, sondern geradewegs nach Osten auf die Hügelkette zu, die wir gesehen haben,“ raunte er Ymir ins Ohr, „am Fuße der Hügel, direkt vor dem tiefsten Einschnitt, wirst du etwas finden. Geh unbedingt dorthin,“ flüsterte er hastig.
Dann erhob er sich und ging, ohne sich nochmal umzublicken, mit den Männern in den Wald hinein. Ymir war allein. Er setzte sich auf und rieb sich die schmerzenden Handgelenke, bis sie wieder gut durchblutet waren. Er stützte den Kopf in beide Hände und hatte eine Weile damit zu tun, das Geschehen nochmal im Geiste an sich vorüberziehen zu lassen. Dann beschloss er, Björn und den anderen genau die Geschichte zu erzählen, die er sich gleich zu Beginn seines Unternehmens ausgedacht hatte, dass nämlich Widukind ihm entlaufen sei. Kein Wort von dem Überfall, womit Widukinds letzte Bitte erfüllt wäre.
Am nächsten Morgen, nach einer Nacht, in der er kaum Schlaf gefunden hatte, machte sich Ymir auf den Weg, den Widukind ihm so nahegelegt hatte. Die Hügelkette schien zum Greifen nah, aber dem war nicht so, Ymir zog den ganzen Tag in die angegebene Richtung, erreichte jedoch erst in der Dämmerung den Fuß der Berge. Er versorgte sein Pferd, aß etwas gedörrtes Fleisch mit getrocknetem Brot, und legte sich dann unter einen Baum. Erschöpft schlief er sofort ein und wachte erst auf, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Er reckte und streckte sich, blinzelte ins Licht, stand auf und sah zu den Hügeln hinüber. Der tiefste Taleinschnitt lag direkt vor ihm, er war ganz deutlich zu erkennen, lediglich ein offenbar vor nicht allzu langer Zeit vom Blitz getroffener Baum stand im Wege. Der Stamm war in der Mitte tief gespalten und die beiden Hälften hingen rechts und links bis zum Boden, so dass es aussah, als wenn er durch diese Gewichte an seinen Seiten jeden Augenblick völlig auseinandergerissen würde.
Ymir war auf einmal hellwach – er rannte hinüber, sah die welken, aber immer noch grünen Blätter und dann die runzeligen hellbraunen Kugeln darunter. Vor Überraschung und Freude stieß er einen Schrei aus.
„Widukind, mein kluger Junge, ich danke dir von ganzem Herzen,“ brüllte er und blickte in die Richtung, in der er ihn jetzt vermutete.
Er würde sehr vorsichtig zu Werke gehen müssen, das Holz stand unter starker Spannung, ein falscher Axthieb, eine falsche Stellung und es konnte mit ungeheurer Wucht gegen ihn schnellen. Vom Stamm würde er nichts transportieren können, aber von der Wurzel soviel wie möglich. Ymir mühte sich einen ganzen und einen halben Tag lang von morgens bis abends ab, dann lag sie frei und er umwickelte sie mit einer Schnur, baute eine Rampe und zog sie auf den Karren. Er sammelte alle Früchte, obwohl sie ihm unreif erschienen, als er sie probierte - Inga würde schon was damit anfangen können.
Am Morgen des nächsten Tages machte er sich auf den Heimweg, den Wagen so schwer beladen, dass er nebenher ging, weil selbst der von Inga ausgeliehene starke Ackergaul Mühe hatte, die schwere Last zu ziehen. Aber ohne Widukind neben sich wollten die Stunden nicht vergehen. Als er nach acht endlos lang scheinenden Tagen endlich das Dorf erreichte, war Björn mit seinen Männern noch nicht zurückgekehrt. Es fiel ihm leicht, Inga und den anderen seine Geschichte vom entlaufenen Widukind aufzutischen. Inga war mit dem Verstauen der Walnüsse und den Gedanken an ihre zukünftigen neuen Schätze so beschäftigt, dass sie Ymir gar nicht richtig zuhörte. Er bemühte sich trotzdem, so glaubwürdig wie möglich zu klingen:
„Er wird nicht weit kommen, so allein im Wald,“ sagte er, „geschieht ihm ganz recht, dem Undankbaren.“
Dann ging er an den Fluss zu seiner Hütte, baute wehmütig Widukinds Bett ab und setzte seine Arbeiten am Schiff fort. Als Björn mit reicher Jagdbeute beladen heimkehrte, war es fertig, das weitaus größte in seiner Flotte. Er bewunderte Ymirs Arbeit so sehr, dass er nicht viel Worte verlor über dessen Alleingang und den Verlust von Widukind, im Gegenteil, aus Freude über das prächtige Schiff schenkte er Ymir ein dunkelbraunes, langzotteliges Bärenfell, das Ymir sich als Decke für sein zukünftiges Ehebett gut vorstellen konnte. Dann begann er endlich mit dem
Schnitzen. Zuerst die versprochene Schale und die beiden Löffel für Inga. Aus dem Rest der Wurzel gelangen noch zwei kleinere Schüsseln und übrig blieb ein längliches Stück mit einer ganz ungewöhnlich schönen Maserung, die sich in weichen Schwüngen und Bändern um ein helles, makelloses Oval wand. Ymir folgte der Maserung und heraus kam ein Rundholz, etwa armdick und unterarmlang, mit einem Griff an einem Ende. Ymir schmirgelte und polierte es so lange, bis seine Oberfläche ganz glatt war. Er mischte Bienenwachs mit Pflanzensäften, strich es über das Holz um es vor dem Austrocken zu schützen, und brachte gleichzeitig damit die feine Maserung in all ihrer Schönheit zur Geltung.
„Sieht aus wie ein Schamanenstab,“ dachte er, „wenn ich Embla einen Spruch hineinbrenne, ist es ein Glücksbringer.“
Also zerbrach er sich Tag und Nacht den Kopf darüber, einen Reim zu finden, nicht zu lang, aber doch schon aussagekräftig. Schöne Worte machen war nicht gerade seine Stärke und so war das Beste, was ihm einfiel:
Wurzel des Baumes aus fremdem Land,
Schätze turmhoch – all Unheil verbannt
Was er mit Schätzen meinte, würde Embla schon wissen: Viele Kinder, Gesundheit, Arbeit – denn das war Ymirs Vorstellung von Glück und er war sicher, dass sie die gleichen Träume hatte. Und weil er von seiner Dichtkunst ganz begeistert war, brannte er in das helle Oval von Ingas Schale einen ähnlichen Spruch:
Wurzel des Baumes aus fremdem Land,
von Inga und Björn all Unheil verbannt.
Der Sommer war längst zu Ende und Aufbruchstimmung machte sich breit unter Gunnars Abgesandten. Auch Ymir wurde zusehends unruhiger, die letzten Monate waren zwar schnell vergangen durch all die vielen Arbeiten und Erlebnisse, aber auch er spürte, dass es an der Zeit war, zurückzukehren in den Fjord von Dragensfjell. Alle nötigen Vorbereitungen wurden getroffen und am letzten Abend vor ihrer Heimfahrt sollte das traditionelle Abschiedsfest stattfinden. Da Ymir seine Arbeiten am See beendet hatte, schlief er seit einigen Tagen wieder bei seinen Gefährten im Langhaus. Am Tag vor ihrer Abreise war es bereits morgens ungewöhnlich warm und der Himmel gelblich verfärbt. Björn schaute besorgt zum Himmel:
„Gefällt mir gar nicht, sieht nach einem Unwetter aus, warten wir mal, wie es sich bis Mittag entwickelt hat.“
Zu dieser Zeit hing es bereits ockergelb über ihnen, es schien zum Greifen nahe zu sein. Unter den Tieren brach eine nervöse Unruhe aus und Björn war klar, dass irgendwas im Anzug war. Er erteilte kurz und knapp seine Befehle, ließ alle Weidetiere in die Ställe bringen, und als am frühen Nachmittag heftige Windböen über sie fegten und eine braune Wand sich bedrohlich näherte, wusste er, dass es schlimm würde. Alle Türen wurden fest verschlossen, Felle vor die Fensteröffnungen gehängt, niemand hielt sich mehr im Freien auf.
„Großer Odin, steh uns bei!“ stöhnte jemand neben Ymir, als der Sturm sie erreicht hatte und mit einem merkwürdig prasselnden Geräusch das Langhaus schüttelte.
Ymir hockte zusammengekauert zwischen seinen Gefährten.
„Die Schiffe!“ durchfuhr es ihn. „Wenn der Sturm wirklich so heftig wird, müssen sie besser gesichert werden.“
Er dachte keinen Augenblick daran, jemanden um Hilfe zu bitten oder sein Vorhaben mitzuteilen. Kurzentschlossen zog er sich eine Decke über den Kopf, wickelte einen Strick um seinen Leib und ging hinaus. Das letzte, was