Jazz. Wolfgang Dahlke

Jazz - Wolfgang Dahlke


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behielte es am besten für sich. Vermutlich hat es außer ihm ohnedies niemand bemerkt. Wer indes aus der schützenden Maske seines Pseudonyms herauskrakeelt: »Der meint doch mich!« täte dies womöglich aus Eitelkeit. Dummheit will ich nicht unterstellen – so dumm war nicht einmal ein Parteisekretär des längst obsoleten Neuen Deutschland (»Herr Heym, geben Sie's zu: der König David, das bin doch ich, oder?!«). Fiktion ist frei. Ich kann lügen oder die Wahrheit sagen. Erst Richtigstellungen machten der Verdacht zur Gewissheit. Außerdem ist es in Literatur völlig unerheblich, ob etwas stimmt. Solange es wahr ist.

      Obgleich Lucius, jedenfalls, so lange er noch Musiker ist, keine Literatur zu schreiben beabsichtigt, macht er sich selbst hin und wieder Notizen über die Künstlichkeit der Konstruktion einer Wirklichkeit, die wir offenbar nur, wenn wir sie extrem bearbeiten, deformieren also, wenn wir sie einschrumpfen und ihrer nicht einpassbaren Ecken und Kanten berauben, zu verstehen in der Lage sind:

       Die Wirklichkeit genannte Realinszenierung menschlichen Verhaltens hat, wie jedes andere Theaterstück auch, gewisse Typen. Man nimmt die anderen wahr als abstrakte, verallgemeinerbare Form aus einer Unsumme von Eigenschaften, die gegen die komplizierte Eigentlichkeit ihres Charakters auf das Erkenn- und Verstehbare reduzierte werden: So willst du ihn haben – du kannst ihn so besser begreifen; und vielleicht bist du das, was du an ihm sehen kannst, worauf du ihn eingeschrumpft hast, was dir immer wieder aufstößt, am Ende du selbst!

      Eigentlich ist der Stoff der Epik, wie gesagt, unendlich. Nimmt man sich nur einige Charaktere heraus oder konstruiert Figuren, die man für typisch genug hält, Gesellschaft zu vertreten, begeht man also (folgen wir Lucius' Aperçu) bereits eine an sich unzulässige Verkürzung. Aber Literatur, als praktische Philosophie, schielt immer in der Abstraktion zugleich auf das Konkrete, meint im Ausschnitt meist auch das Ganze. Und ein Roman allein kann das versuchsweise Bohren an einer Stelle, unter Vernachlässigung Googol-endlich vieler anderer, ohnehin niemals überwinden. So begnügt man sich mit einigen wenigen Typen, deren Geschichte man eine Zeit lang verfolgt; und ein Roman endet zum Beispiel auf Seite dreihundertundfünfzig – zumal man es sich heute nicht mehr erlauben kann, wie Homer, Cervantes, Fielding, Hugo, Joyce oder Döblin, das ungeduldige Schnelllesepublikum, das lieber auf die Verfilmung wartet, mit ausufernden Plots zu langweilen. Eine Erzählung musste schon immer zwischen zwei Buchdeckel passen, die heutzutage nicht mehr allzu weit voneinander entfernt sein dürfen. Es wird sonst womöglich zu teuer; und die Bindung ist auch nicht mehr das, was sie noch nie war. Literarische Texte widersetzen sich zwar dem Verfall, jedoch sind ihm Bücher seit jeher hilflos ausgeliefert. Sonst rechtfertigt nichts derlei Verkürzungen.

      A-PART (THEMA)

      Er wollte nie so sein wie die anderen. In der Schule war er nicht besonders, dafür war er außerhalb der von vorne herein verdorbenen Zeit, nachmittags und nachts, vielseitig künstlerisch aktiv. Er zeichnete und malte, wenn seine Mutter nicht zu Hause war, spielte ganz leidlich Klavier, was er durfte, und nahm heimlich am Konservatorium Schlagzeugstunden. Dafür musste er in einer primitiven Tanzcombo zweimal die Woche Geld verdienen. Seine Mitmusiker dort waren allesamt verheiratet. Sie brauchten die Kapelle, um ihrem Alkoholismus zu frönen und ihren geheimen erotischen Sehnsüchten nachzugehen. Sie bändelten mit betrunkenen Frauen aus dem Publikum an, machten zotige Witze, ließen die ganze besoffene Festhalle in albernen Reihen herumtoben und dumme Befehl ausführen: Die Männer fassen jetzt den Frauen an den Arsch! Oder: die Damen sehen jetzt mal nach, ob die Herren was in der Hose haben!

      Er hörte meist nicht auf die Liedtexte. Nur bei: »Dich erkenn’ ich mit verbund’nen Augen, ohne Licht und in der Dunkelheit«, das der Sänger mit der originalen scharfen jugoslavischen Ach-Lautung sang, fragte er sich, worin der sprachphilosophische Kern des hervorgehobenen Unterschieds zwischen »ohne Licht« und »in der Dunkelheit« stecken mochte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie gerade Leute, die ohne Unterlass vom »Ficken« redeten, fremdgingen, sich Pornos ansahen, plötzlich zu Liedern mitsangen, in denen es hieß: »Manchmal möchte ich schon mit dir diesen unerlaubten Weg zu Ende gehen«. Oder dass Frauen bei der Textzeile mit einstimmten: »Das, was ich will, bist du!« An die wenigen Originaltexte, die er mal gekannt hatte, konnte er sich bald nicht mehr erinnern. Er hatte sie leise und leicht verändert mitgesungen: Bella, bella, bella Marie, häng dich auf ich häng dich ab morgen früh! Als er einmal in sein Mikrophon, das man ihm für die zweite Stimme hingestellt hatte, lauthals sang: Wir bumsen durch bis morgen früh und haben Durchfallera, musste er sich eine neue Combo suchen.

      Damals war er noch nicht arrogant und nur mittelmäßig verzweifelt. Er glaubte, dass noch alles möglich sei. Er begann, sich mit seiner Schüchternheit abzufinden und erklärte sich seine Andersartigkeit damit, dass seine Mutter das immer gewollt hatte. Zu Fasching hatte sie ihm ein Rotkäppchen-Kostüm übergestreift. Er hatte sich erbärmlich geschämt, genauso wie in den Äppelklauer-Büchsen (so hatte sein Vater sie genannt, seine Freunde sagten: Schnellficker-Hosen dazu, wegen des mit zwei Reißverschlüssen zu öffnenden Latzes), weite karierte Kniebundhosen, die sie ihm genäht hatte. Wehrte er sich, fing sie an zu weinen und redete tagelang nicht mit ihm. Also versuchte er lieber, die Idee, die hinter ihren Wünschen stand, als seine ureigenste Andersartigkeit anzuerkennen und sie gegen die anderen zu verteidigen. Er begann zu vergessen, dass er lieber wie alle als Old Shatterhand gegangen wäre oder wie Mick Jagger aussehen wollte. Sein Vater hingegen hatte es gern, wenn er in allem so war wie die anderen, nur besser: mutiger, selbstsicherer, stärker, ehrgeiziger. Er fing an, sich abfällig über Schwächlinge zu äußern, die ihre schlechten Schulnoten nicht ertrugen und sich umbrachten, oder die überhaupt miese Zensuren hatten, obwohl sie aus reichen und gebildeten Elternhäusern stammten.

      Genauso wie sein Vater konnte er nicht verstehen, wie erwachsene Männer an Schicksalsschlägen zugrunde gingen und dem Alkoholismus anheimfielen, nur weil ein Kind gestorben oder ihre Frau untreu war. Seine Schwierigkeiten mit der Normalität der anderen, ihrer Durchschnittlichkeit, erklärte er sich damit, dass er zu etwas Großartigem bestimmt war. Ab irgend einem Zeitpunkt würde er, selbst wenn er gewollt hätte, keinen Zugang mehr gefunden haben zu den ganz normalen Lebensäußerungen der Mitschüler, Freunde oder Mitmusiker.

      Sein späteres politisches Engagement für die Diktatur des Kollektivs der Mittelmäßigen war zeitgemäß gewesen. Er hatte aber nie wirklich geglaubt, dass alle Menschen ihre Geschicke fortan selbst bestimmten, sondern sich in Tagträumen vorgestellt, dass er, eine redegewandte und erotisch ausstrahlende Mischung aus Daniel Cohn-Bendit und Jim Morrison, von einer Tribüne zu ihnen sprach und sie aufrief, ihre entwürdigende Fließbandarbeit aufzugeben oder in der Straßenbahn nicht mehr zu bezahlen. Da er aber die Erfahrung machen musste, dass er, wenn er aufgeregt war, leicht stotterte oder ganz den Faden verlor, nahm er sich später vor, die Massen mit guter, echter, ehrlicher Musik zu begeistern und in Bewegung zu setzen. Mit Jazz also. Für das Gro der Bevölkerung bewegte sich, fand er, die Musik, ganz gleich, ob sie Schlager hörten, billigen Rock oder Pop, hauptsächlich im Warentakt. Er wusste irgendwann nicht mehr, ab wann ihn das stumpfe Immergleiche nicht nur langweilte, sondern in ihm Übelkeit hervorrief, ab welchem Punkt seiner persönlichen Entwicklung er ein schwer zu beschriebendes Gesetz des tendenziellen Falls der Rate kulturindustriell erzeugten Lustgewinns zu ahnen begann.

      Als er studierte und nicht mehr zu Hause wohnte, schrieb er seinem Vater einen Brief, in dem er dessen Neigung zu spießigen Vorurteilen kritisierte, seine verlogene Stehaufmännchen-Mentalität nach der tausendjährigen Barbarei, die zum Glück nach zwölf Jahren beendet war. Er hatte seinen Daddy, der immer noch missbilligend auf seine zerrissenen Jeans sah, wenn er heimkam, daran erinnert, dass er mittlerweile, bitteschön, an die dreißig sei, so alt wie ein germanischer Stammesfürst, ein Universitätsprofessor des 19. Jahrhunderts oder der statistisch durchschnittliche gefallene Soldat 1944. Wem aber erlaubt ist, tot zu sein und dem ästhetischen Empfinden der anderen seinen verfaulenden Körper zuzumuten, der darf wohl auch darüber befinden, wie er als Lebender aussehen möchte! Wem erlaubt ist, sein Leben sinnlos hinzugeben, der darf auch entscheiden, mit welchen Menschen er verkehrt, welche Partei er wählt, beziehungsweise ob überhaupt! Deine faschistischen und kriegerischen Tiraden klingen mir noch in den Ohren. Nur dass du heute zufällig Mitglied einer demokratischen Partei bist, weil deine alte verboten ist,


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