Jazz. Wolfgang Dahlke
Sound und rhythmische Stereotypie von Fabrikhallen als Musik kultiviert. Atemberaubend schnelles Rollen mit zwei Stöcken und einem Doppel-Fußpedal über funkelnde Kaskaden unzähliger Toms, manchmal nicht musikalischer als das Ausschütten eines Kartoffelsacks, aber technisch beeindruckend. Virgil Donati dreht die Stöcke blitzschnell beim Spielen, wie ein Zirkusakrobat. Die Meute der meist jugendlichen Zuschauer johlt begeistert. Vor Wochen hatte Jack DeJohnette hier ziemlich verloren versucht, feine Melodien und sensible Klangbilder zu entwerfen; die Kids hatten sich enttäuscht und höhnisch grinsend angesehen: das soll einer der besten Trommler der Welt sein?
Auf dem Bahnhofsvorplatz zerren sie eine zerquetschte Frau unter einer Straßenbahn hervor, der Kopf vollkommen platt. Die umstehenden Schaulustigen starren gebannt auf diesen Zustand äußerster Intimität: Ich schenke euch meinen schrecklichen Tod als Katharsis und gebe euch mein Innerstes preis zur Läuterung eurer abgestumpften Seelen. Die Ambulanz hat Mühe, sich durch die dichte Traube zu drängen.
Aus ihrem Briefkasten mit der aufgebrochenen Tür quillt die Post, Rechnungen, Mahnungen zumeist, Annette hat nicht geschrieben, an wen auch, er war ja ebenfalls nicht da. Leider müssen wir feststellen, dass Sie mit folgenden Mieten und Nebenkosten im Verzug sind: Umlagennachzahlung lt. Aufstellung EUR 289,50. Miete Februar EUR 696,00, Miete März EUR 696,00, Miete April EUR: 696,00. Betr. Ihre Thuringia Musikinstrumenten-Versicherung, Vers.Nr.: 598 782 - D/003. Beitragsfälligkeit: April, EUR 138,00. Eine statistische Umfrage für eine Diplomarbeit eines deutschen Jazz/Rock/Pop-Fachbereiches wird er später gewissenhaft am Schreibtisch beantworten. Ihm gefiel der Einwand Dieter Glawischnigs gegen die Zusammenlegung von Jazz und Pop: man unterrichte ja auch nicht Oper und Operette. Es verschafft Lucius eine traurige Befriedigung, ihnen seinen deprimierenden Einkommensdurchschnitt vorzurechnen, der sich aus der hohen Anzahl der Konzerte und seinem beängstigend niedrigen Jahreseinkommen erhellt. Auf die Frage, ob er auch mit angrenzenden Künsten (Theater, Tanz) zu tun habe, antwortet er: Ja, und ob! Jedesmal, wenn ich auf Tour fahre, macht meine Freundin Theater und führt einen unglaublichen Tanz auf.
Im Hausflur sammeln sich dicke Staubflusen zwischen den Stangen des Treppengeländers, Sand und trockener Straßendreck knirscht unter den Sohlen.
Die türkische Nachbarin putzt jedes Wochenende, bis vor kurzem jedenfalls. Für zwanzig Euro im Monat wollte sie es für die anderen mit machen. Sie haben selbst wenig Geld, halten es außerdem für einen ziemlich peinlichen Snobismus, eine Türkin auszunutzen, die den ganzen Tag schwer arbeitet. Lucius und Annette versprachen, es in Zukunft selbst zu machen. Seitdem ist es dreckig. Sie hat Ärger mit den Kindern: Ich so gute Mutter, so gute Mann, arbeit ganze Tag, warum Sohn faul? Und Tochter war so gut in Schule und jetzt nicht mehr aufnehmen, warum? Sie hat sich nicht fristgemäß zurückgemeldet! Sagt die Sekretärin. Da kann ich nichts tun, tut mir aufrichtig leid! Nein, da kannst du nichts tun! Wir werden die Kanacker schon los, keine Bange!
Unten wohnte bis vor kurzem eine türkische Frau mit ihren beiden Söhnen in einer unbeheizten Zweizimmer-Wohnung. Einer ist über Nacht abgeschoben worden, der andere war aus dem Heimaturlaub nicht zurückgekehrt. Die Mutter schafft tagsüber in einem Hotel als Putzhilfe, abends hilft sie als Köchin in einem Restaurant aus, spät nachts sitzt sie am Fenster, in dicke Wollsachen gehüllt, und starrt in den Hinterhof. Sie hatte ihnen das Foto des Schrottautos gezeigt, in dem ihr Mann vor fünf Jahren bei Kassel tödlich verunglückt war. Mittwoch zwischen elf und eins Abzählung der Strom-, Gas- und Wasserzähler: ich Arbeit, nix zuhaus. Er nimmt ihren Hausschlüssel an sich.
Die Schrottkiste mit der eingeschlagenen Frontscheibe vor der Tür: Dieses Fahrzeug haben rot-grüne Chaoten demoliert, die doch angeblich gegen Gewalt sind. Der Eigentümer. Vielleicht solltest du aufhören, nachts bei offenem Fenster, mit der Lautsprecherbox auf dem Sims, Führer-Reden in die Nachbarschaft zu blasen.
Jegliches Abstellen sowie das Spielen von Kindern verboten! Der Hauseigentümer.
Nehmen Sie gefälligst ihre tote Katze mit rein! Schweinerei!
Die Wohnung riecht muffig, es ist stickig. Lucius reißt die Fenster auf. Annette hatte das Katzenklo nicht ausgeschüttet. Die Katzen sind bei Brigitte, steht auf dem Zettel, den sie an den Kühlschrank geheftet hat. Die Schlafzimmertür ist verschlossen. Er sieht sich um, betrachtet das Bett genau. Es ist nicht gemacht. Er findet nur einige lange blonde Haare von ihr. Seit geraumer Zeit sucht er hartnäckig nach verborgenen Anzeichen ihrer Untreue.
Als er nach unten sieht, sind beide Beine bis zu den Knien mit hektisch sich bewegenden schwarzen Punkten übersäht. Er knallt die Tür zu, streift sich die Klamotten vom Leib, wirft sie in den Wäschekorb. Er überschüttet die ganze Wohnung in einem wütenden Ekelrausch mit Flohpulver, künstliches Schneegestöber wie in einem Hollywood-Studio. Die beiden nächsten Tage verbringt er in der Wohnung gegenüber. Jutta, ihre Nachbarin, ist als Journalistin viel unterwegs, und sie besitzen ihren Hausschlüssel. Für alle Fälle. Er macht es sich an ihrem Schreibtisch vorm Fenster bequem. Das große schwarze Buch liegt in der Mitte der weiß getünchten Schreibfläche, robuster, harter Einband, leicht gemustert, was man nur sieht, wenn man es schräg gegen das Licht hält. Wie ein Band der Neuen Bibliothek, findet er. Nur großformatiger, wie ein alter Diercke-Atlas, jedenfalls fast so groß!
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Sie sind über sieben lange Wochen unterwegs gewesen. Gespielt haben, sogar auf Tour gewesen sein mit klangvollen Namen der Musikbranche: Das schreibt jeder Musiker gern in seine Legende. Für Wochen gemeinsam in einem Bus sitzen, das suggeriert Intimität, Freundschaft. Man sitzt eng zusammengedrängt auf der Rückbank, jeder riecht die Schweißfüße der anderen. Die anderen: sind sie gut, bin ich es folglich auch; kein Star hat es nötig, 'ne Nulpe mitzuschleppen. Sind sie berühmt, werde ich es vielleicht durch sie.
Gute Mitmusiker sind für ihn: »Inspiration und Ansporn. Man knüpft gemeinsam an einem aus individuellen Ideen kongenial komponierten bunten Teppich. Und wenn man Glück hat, fliegt der sogar.« Der junge Praktikant von der Provinzpostille lutscht nervös an seiner Füllerkappe und kritzelt die filigran verzierten Laubsägearbeiten in seinen Block. Die Wangen glühen vor intellektueller Beanspruchung und kulturell-auratischer Erregung.
Was Lucius nicht gesagt hat: Gute Mitmusiker lösen Konkurrenzangst aus, eine fast panische Furcht zu versagen, das Gefühl, sein Licht könne verblassen in ihrem Glanz. Er erwähnt auch nicht, dass ihn das eitle Gehabe der Solisten ärgert, dass es ihn wütend macht, wenn die Zeitungen deren genialen Ideenreichtum, ihre Stilsicherheit, ihren Geschmack, ihre atemberaubende Technik loben und seine Time-Sicherheit und gruppendienliche Zurückhaltung wohlwollend zur Kenntnis nehmen. Banausen!
Was er auch nicht sagt: Schlechte Mitmusiker bedeuten für ihn schamrote, heiße Wangen; im Publikum glaubt er Kichern oder gar unverhohlenes Lachen zu beobachten, manchmal hört er Pfiffe, sieht leere Säle, ganz am Ende ein schlecht besetzter Tisch, die Leute unterhalten sich angeregt, bäumen sich hin und wieder auf vor Lachen, schlagen sich prustend auf die Schenkel, er lugt verschämt oder manchmal selbst höhnisch grinsend zum Bühnenboden. Anrempeln an der Theke in den Pausen. Lieber gar nicht erst hinsehen, wer`s war. Der Wirt sieht durch ihn hindurch, überhört seine gefistelte Bestellung. Ziehen in den Schultern, Rückenschmerzen. Hoffentlich ist es bald eins!
Schlechte Musiker werden nicht engagiert, sie engagieren, lassen spielen. Sie tauchen geschickt unter, wenn’s brenzlig wird und steigen hier und da, wo es gerade nicht passt, mit eigenartigen oder wenigstens eigenwilligen, eigentlich schlicht falschen Akkorden oder Phrasierungs-Extravaganzen wie Kometen aus dem trüben Dunst der Kacke, die vor allem sie selbst zum Dampfen gebracht haben. Spannung entsteht allein aus dem fehlenden Bezug zum harmonischen und rhythmischen Gesamtzusammenhang. Oft tauchen sie als Musiker ganz unter und erstrahlen jäh als Fronttypen, Showaffen und Hampelmänner im geklauten Glanz der Leuchten im Hintergrund. Sie beherrschen als Stage-Techniker, Best Boys und Roadies den Bühnenraum, die Bretter vorm Kopf werden in halsbrecherischen Balanceakten zu jenen, die ihre Welt bedeuten. Sie wuchten herrisch und mit selbsbewusstem Getöse Verstärker und Boxen zu wackeligen babylonischen Turmbauten übereinander und setzen die ganze Bühne unter Strom: »Weg da, lass mich mal. Nimmste mal dein’ Fuß da weg!«. Stundenlang werden Mikros getestet mit falschem Gesinge oder »eins, zwei, one, two« (die »drei« ist erst