Jazz. Wolfgang Dahlke

Jazz - Wolfgang Dahlke


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wund, an denen sie beim Ausziehen elektrische Schläge bekamen; die unfreiwillig kurzen Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Frisuren standen stramm. Die kleinen polierten Glühbirnen, die oben aus den zahngelben Hemdkragen lugten, waren rot angelaufen vor Scham über: Oh Lamm Gottes, unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet, während die Stones schon sangen: I can’t get noho ... Satisfaction.

      Noch immer, wenn er, wie heute, Deoroller kauft, geht ihm Gloria In Exelsis Deo durch den Kopf. Und er muss daran denken, dass er vor gut zwanzig Jahren am Ausgang einer Coop-Filiale mit zwei nicht bezahlten Bak-Stiften erwischt worden war. Die Ermittlungsbehörden hatten ihm geschrieben: die Staatsanwaltschaft Hannover beschuldigt Sie, fremde bewegliche Sachen von geringem Wert einem anderen in der Absicht rechtswidriger Zueignung weggenommen zu haben, indem Sie Waren im Wert von 7,96 DM ohne Bezahlung mitnahmen. Beweismittel: Ihre Angaben, soweit Sie sich eingelassen haben; Zeugen. Wir halten Ihre Version, derzufolge Sie die Werbung »Mein Bak, dein Bak, unser Bak« bezüglich der Eindeutigkeit der Besitzlage für ebenso wenig glaubhaft, wie wir die Formulierung BAK-OUT als für sonderlich geistreich erachten – auch nicht Ihr Angebot, die Deoroller einem Waisenhaus zu schenken, sog. BAK-STIFTUNG. Also enweder er lasse es auf eine Verhandlung ankommen, wobei eine Gefängnisstrafe bis zu einer Woche drohe, mithin Aberkennung seines Doktortitels. Oder man einige sich auf einen Wert von sechs Tagessätzen. Das wären neunzig Mark. Er verzichtete auf die Pointe: Na dann nehme ich doch das Geld, und wir vergessen die Sache, um die Behörde nicht weiter zu erzürnen und stotterte den Betrag in monatlichen Sätzen zu zehn DM ab.

      Dieses sandgraue Jungengymnasium könnte es gewesen sein. Alle Bullenklöster dieser Welt scheinen von ein und demselben Architektenkonsortium entworfen. Wie kriegt man es hin, dass trotz ausreichend vieler und genügend großer Fenster kein Licht reinkommt? Die Schildbürger hatten das Prinzip perfektioniert: Fenster ganz weglassen und nur so viel Licht, wie unbedingt nötig, mit Säcken reintragen. In der Aula des Gymnasiums, das Lucius besucht hatte, spielte auf der selben Bühne, auf der er sich in Bödekers postfaschistischen Blasorchester und Flötenchor mit »Und nun gang I an Peter's Brünnele« blamiert hatte (mit Klatschen auf Lederhosen und Schuhe zu Blödekers blödem hingeholperten Klavierzwischenspiel) blamiert hatte, später am Abend Arpad Bondy Vibraphon in einer Primanerjazzkapelle. Dabei übten sie mit der eigenen Band nachmittags schon einfachere Hendrix-Stücke. Seine Angebete, Gila, hatte peinlich berührt auf ihre Schuhe geschaut und war nach der Pause verschwunden. Und dreißig Jahre später trat dort Michel Petrucciani mit Steve Gadd auf. Lucius blickte sich während des Konzertes verstohlen um, ob er womöglich Zeugen dieses persönlichen musikhistorischen Debakels von damals ausmachen konnte. Erspähte aber außer dem ehemaligen Chorleiter, Donald Cramer, der (wie damals) noch immer milde abwesend lächelte, gottlob niemanden.

       »Der Nagelkopf« , rechts: der mittelalterliche Marktplatz, den (für die damalige Zeit) wuchtige schieferverkleidete oder ihre Fachwerkbauweise offen (wie Kunstwerke) zur Schau stellende prunkvolle Häuser des wohlhabenden Handelsbürgertums und der Handwerker-Stände der ehemals reichen Hansestadt umsäumen. Links: das drohend düstere Massiv der Marktkirche. Dazwischen, vor der Seitfront des bald tausendjährigen Rathauses, an der eine wuchtige Steintreppe hinaufführt zur schweren Holztür vorm reich verzierten Sitzungssaal, steht ein einzigartiger kulturpolitischer Eulenspiegel-Streich des Magistrates der Stadt: ein großer, platter Eisenkopf ist von beiden Seiten mit riesigen Nägeln durchbohrt. Der Künstler hat dieses Monument der vernagelten Kunstborniertheit des kleinstädtischen Bürgertums den Ratsherren gewidmet, die ihn dafür reichlich entlohnten. Vielleicht sogar den Kaiserring überstreiften, eine Kunstauszeichnung, die auch Joseph Beuys bekommen hat. Womöglich für einen Klops Bunkerschmalz, den er in einen Glasschrei gestopft hat, wochenlang vor der Putzfrau verbarg, die den heute viel und gern zitierten Satz prägte: Is dat Kunst oder kann dat wech?! Und der Magistrat verwahrt ihn in den hieratisch gehüteten Gemächern des tumben Kulturfetischismus wie eine Heiligenmonstranz. Vor dem Stadttor hat er sich dann (wie weiland Eulenspiegel, der einem blöden Bürgermeister gerade ein nutzloses aber teures Zeugs aufgeschwatzt hatte) wohl in fettige Fäustchen gelacht. Bis der tiefere Sinn dieser einzigartigen Selbstentlarvung kulturpolitischen Kleingeistes diesem Monument entsteigt, wie einst die Athener Soldaten dem geschenkten Gaul in Troya, dem man nichts ins Maul aber in den Arsch hätte schauen sollen, und Passanten sich davor prustend auf dem Pflaster kullern, wird die graue kleinstädtische Mittelstandsmasse weiterhin kopfschüttelnd daran vorbeiflanieren: Für so'n Quatsch hamse Kohle!

      *

      Was das für ein Name sei, hatte der Beamte beim Ordnungsamt wissen wollen, wo Lucius Mitchell sein Pseudonym anmeldete. Und was das heiße!

      Was heißt Dustin Hoffmann oder Jethro Tull?

      Na gut, sagt der Beamte, aber wo der Name herkommt und wie man ihn ausspricht. Er stammt von meinem jüdischen Stiefgroßonkel mütterlicherseits, der Amerikaner war. Man sagt aber nicht Lusches, sondern Luzius.

      Lucius war es leid, seinen Namen ständig erläutern zu müssen: Er hatte sich zuvor bereits clevere Anagramme überlegt, aber in Dieter Benecke waren einfach zu viele deutsch klingende Laute. Mit seiner spitzfindigen Verdrehungskunst wurde aus Joe Klose: Klo Jose, und aus dessen Sextett das Sex Jose Klosett, aber Bieter Denecke klang ebenso spröde wie Beter Dienecke oder Decker Bietene. Wenn aus Dieter Blume Bluter Dieme wurde, gab das wenigstens noch eine Pointe ab. Das Spiel, die Anfänge zweier benachbarter Worte zu vertauschen, hatte er zu einer gewissen Perfektion entwickelt, wobei kompliziertere Varianten eine fast vollständige Vertauschung der Buchstaben aufwiesen. So war aus Zoo Wuppertal Zupp Waterloo, der Name seiner ersten eigenen Band, geworden. Bei der Nordsee aß er nur noch ungern, da er, seit er einmal Frischfikadellen bestellt hatte, sich später ungeheuer darauf konzentrieren musste, wie die Pressfisch-Klopse nun wirklich hießen.

      Nachdem er Dieter Benecke endgültig dem Schutthaufen der Geschichte übereignet hatte, war ihm zuerst der Kunstname Dusbin Jaich in den Sinn gekommen. Das Rätsel war vielen zu leicht, deshalb hatte er den Namen in seine englisch anmutende Version verfremdet: Dusbin Jaych. Dann hatte er sich für Thaddis Jaime entschieden. Als Stan keine fünf Minuten benötigte, auch diese Maskerade zu enttarnen, entschloss er sich zu seinem jetzigen Pseudonym.

      *

      Noch bis wenige Tage vor der Abreise ist unklar, wer den Bus fahren, wer als zweiter Fahrer und Roady mitkommen wird. Musiker, die genügend Geld haben, um sich geräumige Bandbusse leisten zu können, sind selten oder passen nicht ins Konzept. Außerdem sind zu dem Zeitpunkt die besten Musiker der Szene entweder in Roger Cicero's Band engagiert und spielen den bandintern gern belächelten Sekretärinnen-Jazz, darunter Lutz Krajenski, Ulli Orth, Stephan Abel, Axel Beinecke, Uwe Granitza und Hervé Jeanne. Und ihr früherer Bassist, Olav Casimir, legt ein paar unbedingt notwendig tiefe Töne unter Annett Louisan's Kindergesang. Die vordergründig locker sozialreformerischen Texte für beide Projekte schreibt einer, der so heißt, als könne er vielleicht der Bruder des Kölner Bassisten, den alle Den Inder nennen: Christian Ramond sein: Frank Ramond.

      Niemand, der im Profigeschäft mitmischt, leistet sich heute noch den Luxus der 60er Jahre, einen musikalischen Schwachmaten mitzuschleifen, nur weil er eine Anlage, einen Proberaum und einen Hanomag-Diesel besitzt.

      Deddie Kool hat einen Hanomag-Diesel und ist ein arbeitsloser Sozialarbeiter, der in seiner ausreichenden Freizeit als Amateurrocker genauso erfolgreich ist. Jeder weiß, dass es für ihn etwas Großartiges ist, eine Profiband zu kutschieren, die Anlage aufzubauen, den Sound zu pegeln und so dazuzugehören. Er beteuert, dass er der Band nur einen Gefallen tut; denn eigentlich ist er ja, wie gesagt, selbst Musiker, muss Proben ausfallen lassen und kann nicht komponieren, solange sie unterwegs sind. In jedem Club, den sie meist sehr spät erreichen, testet er zuerst das Klavier, während die Musiker die Anlage schleppen. Es ist für ihn eine offensichtlich erregende Vorstellung, wenn die ersten Gäste und der Wirt glauben, er sei der Pianist. Wo ist unser Akkordarbeiter, mault Kain und zerrt das zentnerschwere Flight-Case mit dem Mischpult, dem Verstärker und der Endstufe, das sie zärtlich Kraftpaket nennen, aus dem Bus. Wenn der morgen wieder nicht anpackt, schmeißt er ihn raus. Kain kann sehr miese Laune kriegen, wenn Musiker schlecht spielen oder Roadies ihren Job nicht machen.

      Und wer fährt dann? fragt Gunther und kennt bereits die Antwort:


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