Jazz. Wolfgang Dahlke
B-PART
Mo. 12.2. Salzgitter, Di. 13. Braunschweig, Do. 15. Hannover, Fr. 16. Emden, So. 18. Lucklum, Mo. 19. Goslar, Mi. 21. Jever, Fr. 23. Oldenburg, So. 25. Oberhausen, Di. 27. Emsdetten, Do. 1.3. Kassel, Fr. 2. Frankfurt, So. 4. Heidelberg, Mo. 5. Esslingen, Mi. 7. Tübingen, Fr. 9. Rottweil, So. 11. Biberach, Di. 13. Fürstenfeldbruck, Mi. 14. Freiburg, Fr. 16. Romans, Sa. 17. Lyon, Mo. 19. Bordeaux, Mi. 21. Santander, Sa. 31. San Sebastian, Mi. 4., Do. 5., Fr. 6.4. London
Es treibt ihm einen angenehm lockernden Schauer in den Rücken, wenn er am Telefon bestimmt und abweisend sein kann. Besonders bei Frauen. So war es auch diesmal wieder gewesen; er hatte sich gesträubt: Was, in zwei Wochen schon? Unmöglich! Er kann Annette nicht einfach sieben Wochen allein zu Hause sitzen lassen! Und warum überhaupt er, haben die anderen alle abgesagt? Außerdem: Er kann nicht über eine so lange Zeit jeden Abend spielen. Dann wird sein Rheuma unerträglich.
Es kommt auf die Länge der Leitung an, ob sein Bluff, irgendwo zwischen Bescheidenheits-Koketterie und sadistischer Kompliziertheit, den oder die am anderen Ende für längere Zeit hilflos zappeln lässt. In diesem Fall Ina. Es drängt sich ihm (in Bezug auf Ina) das Bild einer lachhaften chaplinesken Figur auf, die von einem riesigen, bulligen Pickelgesicht (ihm selbst) hinten am Jackenkragen hochgezogen wird. Ina hat, sagt sie knapp, im Augenblick andere Sorgen und keine Zeit für seine Spiele: Ich kann diese Arie zweistimmig und in sämtlichen Tonarten. Tja, schade, Mensch, vielleicht nächstes mal. Ciao.
Zehn Minuten später ruft er Annette an: Stell dir vor, Ina will mich in ihrer Band mitnehmen. Wir spielen in ganz Europa!
Eine Jazzband ist ein Arbeitsverhältnis. Eine Produktionsgruppe auf Montage. Montage, Dienst-Tage, Frei-Tage. Eine Tour ist der letzte melancholische Versuch, dieses schwierige, fast unmögliche Produktionsverhältnis durch geographische Ausweitung erträglich zu machen, indem man es auf möglichst viele verschiedene Orte in möglichst schneller Abfolge verteilt, damit es keiner mehr merkt.
*
Sie kommen früh in Goslar an, was bedeutet: noch bei Tageslicht, und vom Hotel Kaiserworth am Marktplatz, von wo es nur einen Steinwurf oder einen Weltrekord im Weitspucken bis zum Club ist, schlendern sie in die schmale belebte Geschäfts-Passage. Dann decken sie sich mit Proviant für die nächsten Tage ein. Lucius kauft gern eine intensiv riechende Zahncreme, die lange vorhält: Ah, Ajona, hatte ihn Birgit in der Oberprima begrüßt, du riechst lecker. Ja, damals war er der erste! Heute glaubt er, davon Zahnfleischbluten zu bekommen.
Unter dem Vordach bei Karstadt steht nun Lucius und bewacht die Kartons, derweil die anderen, was sie in jeder Stadt tun, die Musikläden nach irgendwelchen Instrumenten und technischen Neuheiten abklappern, die es – warum bloß? – in Hannover vielleicht noch nicht gibt. Zwanghaft und lächerlich, findet Lucius, der gern mitgegangen wäre. Aber irgendwer muss ja auf die Sachen aufpassen! Insgeheim glaubt er nämlich doch an den kleinen Provinzladen, in dem es in einer verstaubten Ecke die Ludwig Snare für zweihundertfünfzig Ocken gibt.
Der alte dicke Penner mustert ihn, sieht auf die Kartons, wieder zu ihm: Ich war die letzten Jahre ein paarmal drüben in Polen, sagt er, es wird besser. Ihr seid ehrgeizig und fleißig, und es wird nicht mehr lange dauern, dann habt ihr auch, was wir haben. Dann braucht ihr nicht immer rüberkommen und uns die Sachen wegkaufen. Aber, obwohl wir uns gerade so nett unterhalten, möchte ich zum Geschäftlichen kommen: Haste mal'n Euro?
Die Enge von Kleinstädten wie dieser – ganz abgesehen von ihrer liebenswürdig rauh-romantischen Ausstrahlung – hat hinter der vordergründigen Idylle ihrer zuckerguss-verkleisterten Hexenhäuschen-Fassaden für ihn immer etwas undeutlich Bedrückendes. In einer ähnlich dichten, dornigen Neurosenhecke war auch Lucius, als er noch Dieter hieß und von seinen Freunden seiner immerwährenden Unzufriedenheit mit allem und jedem wegen »der kleine Nölprinz« getauft wurde, lange nach der Schulzeit hängengeblieben, ehe ihn dann Nerea wachküsste und nach Heidelberg holte.
Rainer lebt immer noch in der Kleinstadt, in der sie beide aufgewachsen waren, fast vierzig, bei seinen steifen Eltern in einer winzigen Mansarde mit schrägen Wänden. Auch er hatte Berufsmusiker werden wollen, übt seit zwanzig Jahren sechs Stunden am Tag Gitarre und traut sich nicht mehr auf die Bühne, weil er sicher ist, nicht gut genug zu sein. Es gibt jetzt in ihrem Ort, hatte Rainer kürzlich geschrieben, einen Jazz-Verein mit einem dicken Boogie-Woogie-Pianisten als Erstem Vorsitzenden, der in der Zeitung verbreiten ließ, das Jazzpodium habe ihn einst zum drittbesten Jazz-Pianisten des Landes gekürt, und der gegen ihn, Rainer, ein »Vereinsausschluss-Verfahren wegen vereinsschädigenden Verhaltens« angestrengt habe – aufgrund der unbewiesenen (aber von jemand, der sich nicht zu erkennen gab, angeblich bezeugten) »unglaublichen Unverschämtheit«, dass er, Rainer, nachts betrunken in einer Kneipe über ihn, den Ersten »Vorschwitzenden«, hergezogen habe. An den genauen Wortlaut seiner dreisten Beleidigungen konnten sich weder der anonyme Zeuge noch der Vereinsvorstand erinnern. Nur habe man ihn in Verdacht gehabt, er habe bei »Jazz vom Feinsten« auf den Plakaten des Boogy-Virtuosen überall das N ausgestrichen. Er sei zuvor, beteuerte Rainer, der Vereinsspitze lediglich dadurch unangenehm aufgefallen, dass er einige brauchbare Vorschläge gemacht habe, wie die Organisation mehr Mitglieder gewinnen, bessere Pressearbeit leisten und eine demokratische Entscheidungsfindung unter den Mitgliedern per Umfrage erzielen könnte. Außerdem hatte die Provinzpostille seine, Rainers, früheren Erfolge als Musiker in einem Artikel über die städtische Musikszene gewürdigt und erwähnt, dass er mit berühmten Musikern des internationalen Jazz zusammengespielt habe (was den Tatsachen entspricht). Leider habe der Redakteur in seinem Artikel versäumt, die Neugründung des Vereins hervorzuheben und den Ersten Vorsitzenden wenigstens namentlich, wenn nicht gar lobend, zu erwähnen.
Rainer, der sich keiner Schuld bewusst war, dem man aber Arroganz und Starallüren vorwarf, entschuldigte sich beim Vorstand und den Mitgliedern und schenkte dem Verein ein Konzert mit einer international renommmierten Koryphäe, die er persönlich kennt und die seinetwegen gern kam, sich nicht einmal die Flugkosten erstatten ließ und für wenig Geld spielte. Auch das legte ihm der Vorstand als »unerträgliche Renommiersucht« aus. Der Erste Vorsitzende, der bis eine Woche vor dem Konzerttermin weder einen Auftrittsort besorgt, noch die von Rainer selbst geschriebenen Pressemeldungen mitsamt teurem Fotomaterial verschickt, noch den Kartenvorverkauf arrangiert hatte, war bei der Bandzusammenstellung nicht berücksichtigt worden – ein Umstand, der Rainer nun, zu spät, angesichts der offensichtlichen Sabotage durch den Vereinsboss selbst, schmerzlich bewusst wurde.
Die 100 Plakate, die man angeblich vergessen hatte abzuholen, geschweige denn zu verteilen, warf man ihm einen Tag vor dem Konzert in den Hausflur. Er hängte sie noch in derselben Nacht eigenhändig auf, hatte inzwischen auch einen Club besorgt und den Vorverkauf geregelt, ganz nebenbei die Bandproben arrangiert und ohne die geringste Hilfe durch die Vereinsmitglieder einen Workshop mit dem Star organisiert und durchgeführt (die Zeitung schrieb: »als special offer des Jazzvereins«); schließlich beglich er auch die Kosten für die Plakate, für die die Druckerei keine Rechnung ausstellte, um dem Verein die Mehrwertsteuer zu ersparen, der sich daraufhin, da Rainer keine Rechnung vorlegen konnte, unter glaubhaftem Ausdruck tiefempfundenen Bedauerns für nicht zuständig erklärte.
Bis heute habe ihm die Jazzszene der Stadt nicht verziehen, dass er (obgleich stillschweigend und ohne die Sache an die große Glocke zu hängen) daraufhin einfach ausgetreten ist.
Er hatte sich wenig später, so schrieb Rainer weiter, bei der städtischen Musikschule beworben, wo man ihn aber abgelehnt habe, da er kein Diplom vorzuweisen hatte. Sein zusammen mit seiner Bewerbung eingesandtes »Modell eines Zweigs für Jazz und Popularmusik« übernahm die Schule allerdings. Zu den öffentlichen Sessions, die Teil seiner Alphabetisierungs-Vorschläge für die Szene waren und die nun ein ehrgeiziger Musikschullehrer in eigener Regie durchführte, wurde er nicht eingeladen.
Lucius’ Blick streift über die Fassaden, wandert vom Marktplatz über das alte Rathaus, die Marktkirche in Richtung des Hotel Brusttuch. In dieser Kirche könnte er damals gesungen haben, erster Sopran, vorne rechts, mit der Kantorei. Im Winter lugten die frostig geröteten Eisbeine