Jazz. Wolfgang Dahlke
die Stuhllehne geworfen, Pullover, Hemden, Unterwäsche, Sportzeug, alles riecht noch getragen. Jede Trennung ist schwer. Hier war er vor Jahren wie ein Kind zu Hause.
Er zerrt den Notizblock aus der Tasche, den die Staatsanwaltschaft neben einigen anderen beschlagnahmten Dingen an Nerea zurückgeschickt hatte. Das unbeschriebene obere Blatt weist die Druckspuren übereinanderliegender handschriftlich verfasster Sätze auf. Sein Versuch, die in einander gerutschten Worte durch Überschraffieren der Rückseite sichtbar zu machen, bringt wenig ein; die Konturen sind zu schwach. Wenn er aber das Blatt schräg ins Licht hält, werden einzelne Wörter und Satzfragmente sichtbar. Er ist aufgeregt und konzentriert sich auf verstehbare Zusammenhänge. Seine Augen schmerzen, es ergibt alles keinen Sinn; mal scheint es sich um Briefe, mal um flüchtige Notizen zu handeln, mehrere verschiedene Anreden über- und nebeneinander: Kollegin war hier. Staatsanwalt Ziege und Rechtsanwalt Unger Vollmacht. Bausparverträge. Ölrechnung. Auto etc. Nescafé Gold. Streuselkuchen mit Mohn 50 C. 1 Eis. Mutti: Röntgenbilder gesehen, total verkrebst (Nieren, Leber, Lunge sogar). Besuchserlaubnis per Post.
Kein Geständnis eines Mörders, der sein Gewissen entlasten will, nicht das Vermächtnis eines Straftäters, der wenig später Hand an sich legen wird und alles preisgibt, weil er nichts zu verlieren hat. Kein Dokument der letzten Minuten vor der grausigen Tat, das dem Kommissar in die Hände fällt und der stagnierenden Recherche des Tathergangs die entscheidende Wendung gibt. Nicht in jedem Fall ist das reale Leben aufschlussreicher als die Fabel, die erfundene Geschichte.
Enttäuscht zieht er die in Heidelberg gekauften Schallplatten aus der Tasche. Sein vorrangiges Interesse gilt immer den Rückseiten der Covers. Als erstes lernt er die Besetzungen der Gruppen auswendig, dann die Titel. Hannibal Marvin Peterson, Thomas Martin Stevens, Bobby Nelson. Er ist sich nicht sicher, sieht auf dem Cover nach. Siehst du, das hab ich schon mal falsch gemacht, als er sich von mir einen Beckenständer auslieh und ich zu ihm sage: Sure, Bobby Nelson gets my best cymbal stand! Allan Nelson, sagte der andere mit Nachdruck, vielleicht beleidigt. Klar: Allan Nelson und Bobby Cochrane, so herum war es richtig.
Derartige Missgeschicke sind ihm oft jahrelang peinlich. Wie zum Beispiel die Episode mit Harry Beckett, dem er in der Garderobe von einigen der weltbesten Trompetern vorschwärmte, bevor er ihn fragte, welches Instrument er denn spiele. Well, I play a bit trumpet too, hatte der nachsichtig gelächelt, bevor er durch den Vorhang ins Rampenlicht trat.
Andererseits konnte er sich aber auch ebenso lange über gelungene Scherze freuen, die ihm meist eher beiläufig herausrutschten. Der Drummer von Phil Woods stellte sich vor: Goodwin (den Vornamen hatte er nicht mitgekriegt, »Bill« glaubte er jedenfalls verstanden zu haben). Wie er denn heiße, wollte er von Lucius wissen. Bill Badloose, hatte er eher beiläufig geantwortet. Später mussten sie alle (Phil Woods, Bill – oder wie auch immer – Goodwin, Horace Parlan und der Bassist, dessen Namen er vergessen hatte, vermutlich Harvie Swartz) hinter der Bühne lange über Bill Badloose lachen.
Er hat ihr versprochen, sie vor Göttingen zu wecken. Gegen die Müdigkeit trinkt er Kaffee, jedesmal, wenn der Wagen mit Getränken und Snacks vorbeikommt. Kurz vor Kreiensen muss er eingeschlafen sein. Celle, hier Celle, er reibt sich die Augen, die Linsen sind verklebt, brennen. Mensch, dann muss ich ja nächste Station raus! Was, Celle? Er hat Hannover verschlafen! In einem Satz ist er draußen, wenige Minuten später friert er. Er sieht auf dem Plan nach dem nächsten Zug Richtung Hannover. Er muss zwei Stunden warten, setzt sich auf eine Bank, zieht fröstelnd den Jackenkragen hoch. Als er aufwacht, ist es nach sieben.
Im Hauptbahnhof Hannover kauft er sich an der »Mampfmaschine« – er muss nach Jahren immer noch über den Namen der Imbissbude schmunzeln – ein weiches belegtes Brötchen, hastet kauend den Tunnel unter der Bahnhofspassage entlang, beim Trinken und beim Essen: vorwärts nicht vergessen. Brechblumen brechen und Blechbrunnen sich Bahn dem Aug’ des Wanderers, kommst du nach Spar.
An der Rinne im Großraumpissoir stehen sie dicht gedrängt. Immer rückt einer eng an ihn heran, der ihm ganz unverhohlen auf die offene Hose glotzt. Die sogenannten Trockenpisser sind für ihn die bedauernswerteste Kategorie des homosexuellen Spanners. Was er nicht versteht: wie man sich die Schwänze anderer ansehen kann, wenn man selber einen hat. Schon Kant betrachtete das Ding an sich!
Ey, Atze, hasse ma'n Euro oder fünf? Ick bin aufe Durchreise, zu meine Mutter in Berlin. Aber mir ist det Reisegeld ausjejangn, faschtehste?
Ausgegangen, wa? Weggelaufen! Aus der Flasche geronnen, ne?
Erzähl noch so ein, ey. Verpiss dir bloß, Keule, jeh bei deine Olle und steck dir was in Kopp, dassde noch fetter wirst!
Er beobachtet diese Szenen gern. Is gut Mann, kannst weitergehn! sagt der entlassene Sträfling, der auf dem kalten Kachelboden hockt, eine leere Blechbüchse neben sich, du verdeckst meine Auslagen: Ich habe Hunger, danke. Das Schild an die Beine gelehnt. Besuchen Sie auch unsere Filiale gegenüber! Kaufhof.
Indirekt geben ihm gestrandete Existenzen Mut: Warum mache ich mir Sorgen? Was brauche ich denn schon zum Leben! Meine Altbauwohnung im Hinterhaus, Wasser, Brot, Käse, Wurst, Milch, Kaffee, vielleicht Tee, die paar Sachen zum Anziehen. Mein Schlagzeug. Was noch?
Na gut, Bücher, Stereoanlage, Fernseher, nein, den nicht unbedingt. Ab und an ein Auto, um zu den Konzerten zu kommen. Krankenwagen müssen sein, das sollte jeder einsehen, Busse, Bahnen. Taxis vielleicht noch. Aber warum muss jeder ein eigenes Auto besitzen? Na-ja, manche Leute können ihre Arbeitsplätze gar nicht mehr anders erreichen. Bevor er die Liste der wenigen Dinge, die man braucht, ins Unermessliche anwachsen sieht, gibt er den Gedanken auf.
Im wild wimmelnden Haufen einige größere Exemplare mit weißer Kappe: Hamse wenigstens nen Reisepass oder so? Wo wohnen Sie denn? Sie wissen, dass Sie hier nicht schlafen dürfen, also los jetzt! Eine johlende Meute rammt sich, Flaschen schwenkend, in Ketten zu wenigstens sechs Leuten, durch die unterirdische Verkaufsstraße, die ihn an die kalten Betongänge der Pathologie unter der Medizinischen Hochschule erinnert. Schiefe Militärmützen halb über die kantigen Visagen gezogen. Wir lieben Adolf Hitler und sein Reich, alle Juden sind uns gleich, wir lieben Skinheads und SA, schlagen Türken, ist doch klar. Stich und Hieb muss ein Landsknecht, viel Feind, viel Ehr, zwo, drei. Ein Eisbrecher, rawumm, Passanten spritzen seitlich weg. Opa, nimm dein’ Stock runter, ich helf dir jedenfalls nicht!
Vor Wochen glitzerte der Bahnhofvorplatz eines Nachts, durch kreisendes Blaulicht surreal in fliegende Leuchtstreifen zerhackt, von den Scherben zerdepperter Bierpullen. Auch eine Kristallnacht! Für den Skinhead, der sterbend auf den Stufen unter dem Monument des reitenden Landesvaters saß, hatte Lucius, der von einem Gig kam, eine Ambulanz gerufen, das Messer hatte er sich selbst aus der Brust gezogen. Einem türkischen Jugendlichen war zwei Tage zuvor der Schädel mit einem Baseball-Schläger zertrümmert worden.
Hier und dort sieht man auf dem Weg zum Kröpke Straßenmusiker im Strom, sehr gute dazwischen, amerikanische Folksänger mit lauten, beherzten Stimmen, Münzen fliegen glitzernd herüber wie Geschosse. Ein afrikanischer Congaspieler erzeugt warme, lebendig klangvolle Rhythmen, die von den toten Fassaden aus Glas und Beton widerhallen und ihre ungehörte Botschaft vom Kino-Center bis zum bankrotten Wertheimpalast verbreiten. Das immergleich stumpfe Retortengestampfe aus Stereoanlagen, das aus den Boutiquen quillt, wird bunt umwoben wie ein verlorener Polyesterfaden in einem groben Baumwollhemd. Ein paar bunte, wild zerzauste Punks tanzen und klatschen im Rhythmus. Dezent frisierte, graubärtige Jazzinteressierte stehen mit Umweltpapiertüten voll preiswerter Standardplatten wohlwollend nickend abseits, stampfen mit dem Fuß einen falschen Beat.
Die graue Plastiktüten-Spezies drängt irritiert oder betont unbeteiligt vorbei. Etwas weiter mimt ein klappriger Dirigent unter großem Gelächter zu holpriger Marschmusik aus einem Plastik-Plattenspieler, wenige Münzen im zerbeulten Hut.
Ein schmuddeliges Roma-Kind quetscht unbeholfen melancholische Tonfolgen aus einem Akkordeon. Ab und zu kommt die Mutter, in bunte Tücher gehüllt, ein Baby im Arm, und nimmt die wenigen Groschen vom Teller.
Um die Ecke das Pro-Percussion-Center. Wie alle Industriebereiche bemüht sich auch die Musikinstrumenten-Produktion, mit den Bedürfnissen schrittzuhalten, die sie erzeugt. Das