Jazz. Wolfgang Dahlke
kommentiert wird: schließlich könnte ja auch gar kein Ton kommen. Sie stehen da, breitbeinig, grinsend, wie ein besoffener Titanic-Offizier, der gerade erfährt – »lächerlich, ha ha« –, dass sein Schiff gleich sinken wird. »Da musste durch, Alter!«. Immer sind sie laut, vorm Spielen, beim Spielen, danach an der Theke: »Ja, ich bin von der Truppe; was trinkst’n du, Kleine?«
Die Typen hat er hassen gelernt! Oder besser, er hat es nicht gelernt, sie einfach hinzunehmen wie ein Naturereignis, das man nicht verhindern kann.
Er spricht nicht viel mit den anderen. Er nehme lieber das Blattgold des Schweigens vor den Mund, sagt er einmal in einem Interview.
Während der sieben Wochen, die sie auf Tournee sind, sitzt er meist im Bus oder in Kneipen abseits an einem Tisch und liest. Oder aber er schreibt Dinge in sein schwarzes Buch, Beobachtungen, Kommentare. Auch jetzt, im Rückblick, schreibt er immer noch auf, was ihm auffiel, unangenehm war oder missfallen hat. In die freien Stellen zwischen seinen Aufzeichnungen klebt er Vorankündigungen und Konzertkritiken, die ihm die Veranstalter auf seinen Wunsch zugeschickt haben und in denen er etwas über sich wiederzufinden hoffte – meist vergeblich. Jetzt, da er beim Schreiben die Dinge noch einmal durchlebt, aber nun aus der entfernten Betrachtung, geordnet, ist sein Kopf klarer als in der wirklichen Situation.
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Ina hat, wie er findet, ein hübsches Gesicht, bis zur Schulter sehr blond und gewellt eingerahmt, leicht slawisch vorstehende Backenknochen, offene, strahlend blaue Augen. Oder grüne. Ihre Stimme klingt meist etwas flach, über die Anlage kommt sie aber warm und geerdet. Er muss an die kleinen Drehorgeln denken, die immer die erste Phrase von »Für Elise« herunterleiern und nur auf Tischen und Regalen klingen. Manchmal singt sie haarscharf daneben. Zur Mitte hin gleicht sie einer Knetwachsfigur, die zu heftig aufgesetzt wurde. Nach unten läuft sie erstaunlich spitz zu. Wenn er Nappo zu ihr sagt, lächelt sie unsicher und holt zu einer drohenden Handbewegung aus. Er mag es aber auch, wenn sie ihm nur die Zunge herausstreckt und sich in einer beachtlich flinken Rotationsbewegung von ihm abwendet. Über sie schreibt er nichts, aus Angst, Annette könnte es lesen.
Er, ihr Mac, Jörn Pfuscher – den Namen hat er sich selbst zu verdanken, es ergab sich so, drängte sich förmlich auf, eigentlich heißt er Fischer –, Jörn also sucht die Musiker zusammen, die Ina helfen sollen, wenigstens so bekannt zu werden, dass das Jazzpodium über sie schreibt. Die besser sein müssen als er, damit sie nichts Schlechtes schreiben, andererseits wiederum nicht so irrsinnig gut sein dürfen, dass sie nichts über sie schreiben. Wenn sie gefragt ist, kann er davon leben. Das klingt schwierig, ist aber nicht so kompliziert zu bauen. Besser als er ist ohnehin jeder, und Musiker, die so gut sind, dass neben ihnen alle, vor allem sie beide, zu gesichtslosen Kupfermünzen verblassen wie die umstehenden Jünger auf einem barocken Heilands-Fresko, spielen eh nicht mit. Außer: Sie brauchen Geld.
Kain Cawfield braucht Geld. Zwar behauptet einer seiner Kollegen, er habe geerbt und müsse eigentlich gar nicht mehr auftreten, außerdem sei sein Alter ein stinkreicher Industriebonze. Jedenfalls nimmt Kain jeden Gig, den er kriegen kann. Er ist Münchner oder Kölner, keiner weiß das so genau. Vielleicht ist er auch Amerikaner. Sein Vater stammt angeblich aus Detroit, und er selbst soll in Frisco geboren sein. Jedenfalls »spRickt eRR AmeRikanischen Äkssent«. Andere wiederum, die mit ihm zur Schule gegangen sein wollen, behaupten, er sei aus Emden. In Memmingen jedenfalls hatte er sich auf einer früheren Tour einen ganzen Abend lang als Amerikaner ausgegeben und kein Wort Deutsch geredet. Das Publikum hatte sich rührend seiner angenommen: wie es ihm hier gefalle, ob er mit dem Niveau der deutschen Kollegen zufrieden sei und ob er nicht auch finde, dass die deutsche Sprache zu schwer sei, die sinnlosen Geschlechter der Substantive, das Chaos der Artikel, die Groß- und Kleinschreibung und die blödsinnig schwierige Unterscheidung zwischen »Du« und »Sie«. Yea, totally!
Kain ist groß, hat eine schlanke, etwas eckige Katalog-Figur und ein Gesicht zwischen Marlon Brando, Jean-Paul Belmondo, Paul und Randy Newman. So in etwa, findet Lucius. Seine Unterlippe hängt etwas vom Saxophonspielen, das macht sein markantes, aber glattes Dekorationspuppengesicht etwas wirklicher, lebendiger. Er wechselt täglich die Slips, lächerlich winzige Dinger, groß wie Augenklappen, und nutzt die Pausen zwischen den Stücken, in denen er, ungerührt, fast steif beginnend, immer weit hinter dem Beat spielend, wie Dexter Gordon, dann, im dritten, vierten Chorusdurchlauf sich ungeahnten emotionalen Rückfällen in die schweißnasse Raserei der Kindertage des Bebop bewusstlos überlassend, wobei er das rechte Bein leicht anzieht und den Oberkörper vorbeugt (beim Blues beugt er ihn weit zurück, solange er noch nicht zu besoffen ist) – die Pausen also, wenn er vom Klo zurück ist, nutzt er für kleine improvisierte Sketche: Er hat jahrelang mit Dizzie Gillespie gespielt und ist ihm irgendwann auf ‘ner Fete in New York aufs Horn gelatscht. Seitdem steht es vorne hoch. Er hat mit Miles Davis zehn Jahre getourt und auch mit Art Blakey, die immer sehr geschwitzt haben. Aber nach einiger Zeit habe es ihn nicht einmal mehr gestört, dass sie Schwarze waren und auch so rochen. Die umstehenden Gäste lächeln verschämt und irritiert in ihr Weizenbier. Kain wechselt abrupt die Nummer, torkelt lallend und gröhlend zur Theke, I didid mmy wayii, wo er drei, vier Weinbrand runterstürzt.
Derweil meldet sich die gelangweilt, leicht arrogant und verstimmt klingende Contratenorstimme eines der angewiderten studentischen Ökos, die den Laden betreiben und hinter einer schmuddeligen Glasvitrine Unmengen selbstgebackener Grünkernklopse stapeln, zwischen langen Fettsträhnen, zwei tiefen, deprimierten Magenfalten und dem hochgezogenen Rollkragen seines selbstgestrickten kratzigen Wollpullis zu Wort und traut sich verstockt zu fragen, wer denn der eklige Faschist sei. Kain grinst von der Theke her breit über sein Branntweinglas und zwinkert herüber. Früher ließ er gern zusätzlich ein Wallraff-Buch, als man ihn noch las, aus der Jackett-Tasche lugen, um die Verwirrung perfekt zu machen.
Kain Cawfield ist wenig über zwanzig. Die sich zusehends ausweitende, mittlerweile kniescheibengroße Fontanellen-Lichtung im heftig angegrauten Kurzhaarschnitt macht ihn gut zehn Jahre älter. Nicht wenige behaupten, er sei wirklich so alt wie er aussieht und habe seine Biographie geschönt, um den Jugendbonus der Musikszene nutzen zu können. Noch gesetzter machen ihn die ausgesucht teuren, etwas altmodischen Tweed-Anzüge, die dezente weinrote Krawatte, die immer blütenweißen taillierten – er würde kalauern: talentierten – Oberhemden, die seine Mutter ihm bügelt, nicht zuletzt der enge schwarze geheimdienst-chronische Ledermantel und der locker nach rechts vorne gekippte graue Humphrey-Bogart-Revival-Hut. Auch bei Kollegen achtet er auf stilvolle und adrette Kleidung. Einmal hat er einen fetten, immer schwitzenden Trompeter wegen seiner verstunkenen Polyesterhemden gefeuert. Mit fünfzehn spielte Cawfield eine verzerrte, irrsinnig laute Hendrix-Gitarre. Als einer mal über ihn lästerte: »Der Anfänger im Rocken«, hörte er, wie man sich erzählt, von heute auf morgen damit auf und begann, Saxophon zu spielen.
Kain hat jeden Abend zwei glanzvolle Solo-Features über »Oleo« und »There will never be another You«, die er nach Belieben, wenn er zum Beispiel will, dass Klammfinger Pfuscher, der doppelt so alt ist wie er, sich im Mittelteil, den er wahlweise mit Trompete, Flügelhorn, Posaune oder Altsaxophon spielt (Jörn ist nämlich Multi-Instrumentalist, ja-ha! Kann alles gleich gut), mal wieder so richtig verhaspelt, die zählt er also nach Belieben in einem so absolut abgehenden Up-Tempo an, dass selbst Stan und ich, die schnellste Rhythmusgruppe zwischen Leine und Ihme, nur noch mit hängender Zunge hinterherzockeln. Dann lächelt er wie entschuldigend oder mitleidig zu Ina rüber, die sich für Jörn rote Backen schämt. Er könnte auch ebenso gut sagen: Sorry Baby, hab ich glatt vergessen, dass dein Mac nicht so schnell kann. Sag ihm, er muss üben, wenn er mit mir spielen will.
Als Sechzehnjähriger hatte Kain im Schultheater verschiedene Rollen gespielt. Die des sentimentalen kleinen Jungen, dem seine Mutti, um nachts Ruhe vor ihm zu haben, statt Milch Whisky gegeben und ihn dann ausgesetzt hat, worauf sich jetzt allabendlich mehrere andere Mütter anerbieten, dem besoffenen und deprimierten Findling aus der nassen Windel zu helfen, inszeniert er seit Jahren erfolgreich.
Auch Ina drängt bisweilen, wenn Jörn auf Toilette ist oder selbst an einem anderen Nahkampf-Schauplatz sein Glück versucht, in die Traube. Die unkontrolliert mitschwankende Flasche Southern Comfort gräbt sich unkomfortabel und klebrig tropfend in ihr weißes Schulterfleisch.
Ach,