Jazz. Wolfgang Dahlke
sie auszubeuten und das deutsche Proletariat mit billiger Arbeitskraft zu erpressen. Ich hasse euer Philistertum, eure Verlogenheit und finde es beschämend für ein angeblich gereinigtes demokratisches System, dass es euch wieder hat hochkommen lassen!
Seine Mutter kritisierte er nie, nicht von Angesicht zu Angesicht und auch nicht in Briefen. Er hatte Angst, sie zu verletzen und fürchtete ihre Migräne sowie ihren Scharfsinn, ihre eisig analytische Art, die Dinge aus einer unlebendigen Distanz zu betrachten, wo sie all ihren Glamour verloren. Seinen Vater, der gelegentlich die etwas aufgebauschten Leistungen des Kronensohns, wie sie ihn dann nannte, bewunderte, ihn manchmal überschwänglich lobte, konnte er bluffen; seine Mutter durchschaute ihn, als einzige übrigens – und sie tadelte sein eitles Gehabe, seine kleinen Lügen, nicht in Worten als vielleicht »affig«, sondern kanzelte ihn durch Unbeteiligtheit ab, sagte so unüberhörbar nichts, dass sich das Wort ihm direkt aufdrängte als ihre Sprache gewordene Geste. Sie war, wie Sartre über seine Mutter sagt, eine feine Realistin in einer Familie plumper Spiritualisten.
Gelegentlich denkt Lucius, dass er vielleicht nicht hartnäckig genug kämpft, dann wieder, dass er oft schon zu viel und zu unerbittlich gefightet hat, zu weit gegangen ist, um sich noch unbeschadet zurückziehen zu können, dass er zu wütend geworden ist oder aus Angst, wütend zu werden und sich zu blamieren, nichts gesagt hat, dass er sich entblößt hat bis zur Lächerlichkeit und dann trotzdem oder gerade deswegen verloren hat, oder dass er aus Angst zu verlieren frühzeitig aufgab und dadurch nicht gewinnen konnte. Nie wieder soll ihn jemand erniedrigen, vor allem aber will er sich nicht durch unkontrollierte Überreaktion selbst lächerlich machen!
Manchmal glaubt er, dass er sich niemandem anpassen kann, mit keinem auskommt, dann wieder, dass immer er sich nur den anderen anpasst. Niemand spricht unaufgefordert mit ihm über seine Musik, stattdessen redet er mit ihnen über ihre, die er tödlich doof findet. Was sind die Rolling Stones gegen Phil Woods oder Sonny Rollins! Oder er lässt sich beispielsweise – als philosophischer Materialist – auf die blöden Glaubenssysteme von Esoterikern ein, die nicht einmal in der Lage sind, ihre als Wissenschaft daherstolzierenden haltlosen Behauptungen in einer systematischen Methode zu entfalten.
Er hat sich oft Gedanken darüber gemacht, wie es kommt, dass die Mehrheit den musikalischen und technischen Wert seiner Musik, des Jazz, nicht wahrnimmt oder zumindest nicht anerkennt. Er hatte überlegt, ob er vielleicht so tun sollte, als sei er wie sie, um nicht allein dazustehen oder einer Minderheit anzugehören. Aber die Disco-, Rock- und Popmusik deprimiert ihn, sie besitzt nicht den Reiz der komplexen Form, der relativen Freiheit der Improvisation im Rahmen eines sehr viel ausgeklügelteren Harmoniegerüsts. Er liebt den lockeren, flüssigen Beat des Swing. Die anderen, glaubt er erkannt zu haben, halten nur aus Angst zwanghaft an ihrer einfach gebauten Musik fest, weil sie merken, dass sie nicht mithalten können. Aber auch innerhalb des Jazz gibt es ungezählte Abgrenzungsgefechte. Da sind die erfolgreichen und gut bezahlten Vertreter des Bier- oder Rumpel-Jazz, wie sie den Dixieland nennen, alte Herren, Vertreter und Medizinalräte, die amateurhaft über lächerlich simple Stücke wirr durcheinanderspielen. Es gibt Boogie-Woogie-Pianisten, die als überbezahlte Alleinunterhalter bei Talkshows auftreten und es schaffen, dass sich ein Stück wie das andere anhört. Oder es gibt den Rock- beziehungsweise Fusion-Jazz, in dem sich die statischen Grooves der Popularmusik durchgesetzt haben.
Wenn er seinen Stil beschreiben soll, sucht er nach Beispielen, allerdings nicht ohne auf seine mittlerweile gewonnene geschmackliche Eigenständigkeit hinzuweisen. Er spiele so ähnlich, versucht er zu erläutern, als wären Jack DeJohnette oder Jon Christensen in die Gruppen Coltranes oder des frühen Miles Davis geraten, offener, moderner also als die Trommler der fünfziger Jahre. Bebop mit Modern Jazz vermischt. Wenn Steve Gadd Jazz spielt, den vor allem die Elektrobassisten, mit denen er gelegentlich zu tun hatte, seiner Präzision und Tempogenauigkeit wegen lobten, verlaufe die Dynamik kreisförmig, hat Lucius analysiert. Ostinate Abläufe in den Thementeilen kehren immer mit haargenau derselben Intensität wieder. Die Spielweise von DeJohnette und Christensen gleicht hingegen einer Spirale, die sich endlos vorwärts schraubt. Immer geschieht etwas Neues, nie wiederholt sich Bekanntes, ein ewiges Neu-Erfinden, das beim Spielen in einen rauschhaften Zustand versetzt, beim Zuhören gelegentlich Unruhe auslöst. Die Spirale hat keinen Anfang und endet nirgends, wie eine epische Erzählung, die mitten im Leben eines Protagonisten beginnt und eigentlich ohne Schluss bleibt. Solche Stücke werden am besten durch Ausblenden beendet, dadurch bleibt die Idee der Unbegrenztheit gewahrt. Zugleich, musste Lucius eingestehen, besitzen sie aber den Makel der ewigen Unvollendetheit, der Unabgeschlossenheit und ewigen Unfertigkeit. Unendlichkeit aber macht ihm Angst.
*
Er setzt sich nach der Konzertreise auf dem Weg von England über Holland gleich hinter der niederländischen Grenze von der Gruppe ab. Nicht, weil sie ihm nach so langer Zeit alle auf die Nerven gehen. Jedenfalls nicht hauptsächlich deswegen. Er muss noch einmal nach Heidelberg zurück: Nereas Vater war vor drei Tagen in einer Besenkammer der Psychiatrie erhängt aufgefunden worden, er war mit der Schuld, die er auf sich geladen hatte, nicht fertig geworden. Er hätte die nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau eingetretene Einsamkeit auch dann nicht ertragen, wenn er sie nicht selbst verursacht hätte, wenn sie eines natürlichen Todes gestorben wäre, der ohnehin absehbar gewesen war.
Nerea und Lucius finden den Umstand, dass es ihm trotz ständiger Überwachung gelungen war, beinahe tröstlich: Jeder braucht eine letzte Chance! Sie trinken in der Bahnhofskneipe in Heidelberg ein letztes Bier vor seiner Abfahrt. Dann bohrt sich der Intercity nach Hannover in die Nacht. Jetzt sitzt er, müde und dumpf entspannt von den Tranquilizern, die sie genommen haben, zwar nicht am Fenster – da ist er zu spät gekommen, aber er kann wenigstens seine heiße Wange an die kühle Scheibe zum Gang lehnen und lässt nun die beiden düsteren Silhouetten der Landschaft: die eine im Glas gespiegelt, die andere dahinter, vorbeifliegen. Vereinzelte Lichtpunkte dazwischen, wie Leuchtmunition in Kriegsfilmen. Sein Blick bleibt an den ruhigeren, entfernten Lichtern haften, die in einiger Höhe am Himmel hängen. Ufos? Nur langsam setzt sich die ernüchternde Einsicht durch, dass es sich um Signale an den Türmen der Burgen auf den Anhöhen der Bergstraße handelt.
Filmhelden lernen im Zug meist, wenn sie den Blick heben, ihre erste wirkliche Liebe kennen: Sie sitzt gegenüber, blass, zerbrechlich, schön, sieht ihn wie versehentlich kurz aber tief über den Rand eines erotischen Groschenromans an. Sie sitzt ihm gegenüber, etwas pummelig, das glatte hellblonde Haar adrett in der Mitte gescheitelt, Popperfrisur: Vorsicht, Stufe! Kaut unentwegt, liest angespannt in einer kleinformatigen Broschüre, die sie in der Mitte geknickt hat. Er kann mit einiger Anstrengung einige Sätze erahnen: Weil jede Beziehung einzigartig ist ... welche Ursachen für Trockenheit am Scheideneingang ... dass viele Paare dem körperlichen Zusammensein eine viel zu kurze Zeit widmen ... wenn man bedenkt, wie viel schneller der Mann die Plateau-Phase erreicht ... die Frau bei einer geringen Dauer des Liebesaktes zu kurz kommt ... mehr Zeit der liebevollen Beschäftigung miteinander ... am Scheideneingang für Gleitfähigkeit sorgt ... Femilind gleicht mangelnde Feuchtigkeit aus.
Wenn sie gerade nicht liest oder er selbst schreibt, legen sie sorgsam ihre Blicke aneinander vorbei. Sehen sie zugleich aus dem Fenster, kreuzen sich die Katheten hinter der Scheibe am Punkt C, die Hypotenuse zwischen A und B, ihm und ihr, ist eine unscharfe Linie, eine indirekte, verschwommene Sichtverbindung aus dem Augenwinkel. So kann er jederzeit einem frontalen Aufeinanderprallen der Blicke zuvorkommen. Lässt es sich dennoch nicht verhindern, weil man nicht unentwegt in die gleiche Richtung stieren oder beim Positionswechsel des optischen Interesses von links nach rechts jedesmal wie zufällig die Augen schließen kann, lächelt sie abwesend; er pfeift. Jetzt will er seit mindestens zehn Minuten ihre Illustrierte haben, die auf dem freien Nachbarsitz liegt, findet aber keine passende Gelegenheit, sie zu fragen. Na, egal, steht ohnehin nichts drin!
Er blickt hinunter auf seine rotbraunen Marken-Turnschuhe, der rechte ist etwas blasser. Nereas Vater hatte immer auf Sonderangebote geachtet. Lucius hat sie zusammen mit einem teuren Tischtennischläger unter dem entweder liebevoll oder zwanghaft gesammelten Gerümpel im Wäschezimmer vorm Bad gefunden, zwischen Gegenständen, die überall ganz selbstverständlich und wie zum täglichen Gebrauch herumlagen. An die zwanzig kaputte Wecker standen auf der Ablage des alten Küchenschrankes. Leere Spraydosen, die er noch von früher zu